Lyrics von Jetzt

Die freshen Verse der 80er-Jahre-Kinder liegen in den Archiven von VIVA und nicht bei Luxbooks

von Michael Watzka

Mit dem Band Lyrik von Jetzt erschien zuletzt 2003 eine richtig große Anthologie junger deutscher Gegenwartsdichtung. Darin vertretene Lyriker_innen wurden wenige Jahre vor oder nach 1975 geboren und waren also zum Anthologiezeitpunkt in ihren späten Zwanzigern oder frühen Dreißigern. Zwar sind die Endzwanziger auch nicht mehr die ganz jungen Stimmen; im Schnitt ist dieses Alter für eine Anthologie jedoch gar nicht ungewöhnlich. Die 1919 von Kurt Pinthus herausgegebene, epochemachende Sammlung Menschheitsdämmerung etwa versammelte im Mittel expressionistische Autoren der vier Jahrgänge vor und nach 1887. Scheinbar muss in der Lyrik (anders als im Sport) erst etwas Zeit vergehen, bis sich Talent zu einem eigenen Stil entwickeln und der sich setzen kann. Je jünger, je besser muss da nicht unbedingt stimmen. Hinzu kommt, dass Anthologien eben weniger den gegenwärtigen Moment erfassen, als im Nachhinein Texte der Hochphase einer Strömung abbilden, die zum Zeitpunkt des Erscheinens dann bereits vier oder fünf Jahre alt ist. Die Herausgabe von Texten in einer Anthologie ist immer schon ihre Archivierung.

Wo sind die Verse der Generation Modem?

Das mit ›groß‹ der Status von Lyrik von Jetzt nicht übertrieben ist, zeigen die Kreise, die die Sammlung bis in die Gegenwartsliteraturlandschaft zieht: Jan Wagner, Jahrgang 1971 und einer ihrer Herausgeber, erlebt seit dem Gewinn des Leipziger Buchpreises so etwas wie ein Lyrikwunder – und mit ihm die ganze Zunft. Wie schön. Nur wo bleibt die Anthologie der 2010er Jahre? Lyriker_innen von jetzt wären etwa gegen Ende der Achtziger Jahre geboren und gerade Mitte/Ende zwanzig. Wer macht gerade die Verse, die das Lebensgefühl einfangen, zu der Zeit aufgewachsen zu sein, als Schröder gerade, Kohl nicht mehr Bundeskanzler, Telefone schon nicht mehr schnurlos und die Songs in den Charts von Blink182 waren? Wo sind die Verse der Generation Modem?
Vor nicht allzu langer Zeit haben der Rapper Dendemann und der Satiriker Böhmermann im ZDF die Geschichte des deutschsprachigen Rap als Medley inszeniert. Vorbild waren – wie für den hiesigen Sprechgesang überhaupt – die Vereinigten Staaten: Justin Timberlake und der US-Talkmaster Jimmy Fallon legten vor einiger Zeit eine mehrteilige Videoserie zur Geschichte des Genres vor. Was beim Schauen beider Kompilationen auffällt: Der Rap ist längst nicht mehr Phänomen oder Subkultur, sondern ein eigenes Feld mit stattlicher Geschichte und internen Bezügen und gerade dabei, durch Leute wie Böhmermann oder Fallon (deren Zuschauer im Schnitt über 50 Jahre alt sind) knapp ein Vierteljahrhundert nach sein Anfängen in den Mainstream integriert zu werden.
Die Anfänge des US-Rap fallen mit Tupac Shakur und The Notorious BIG in die Mitte der 80er. Beide Rapper könnten dem Geburtsjahr nach also auch in Lyrik von Jetzt vertreten sein. Bis die Welle des Sprechgesangs über den Ozean geschwappt ist, hat es etwas gedauert. Die Anfänge hierzulande wirken aus heutiger Sicht noch sehr ›deutsch‹ und im Vergleich zur Attitüde des großen Bruders brav und bürgerlich (»ich muss dir jetzt erzählen, was mir widerfahren ist«, rappt Thomas D mit Stuttgarter Kehllaut über »die da« am Tresen, »sie hat auch allerhand«; »Na fein!«). Mögen manche der frühen Sachen von Fettes Brot und den Fantastischen Vier mitunter skurril anmuten; mit ihrer Pionierarbeit haben sie allem Nachfolgenden einen Bärendienst erwiesen und gezeigt: Sprechgesang geht auch auf deutsch.

Weg vom »Die Da!?!«-Charme der Neunziger

Nach Afrob und Ferris MC kam zur Jahrtausendwende der große Turn. Kinder türkischer, sudanesischer oder iranischer Einwanderer wie Eko Fresh, Kool Savas oder die Gruppe Aggro Berlin erfanden aus der Unterschicht heraus den eigentlichen Deutschrap. Vor allem das Deutsche als Rapsprache profitierte von diesen neuen Einflüssen; viel geschmeidiger hörte sich das »Isch sehe disch« an, lockerer, urbaner und weniger altbacken als die standardsprachlichen Auslautung. Weicher und weniger korrekt zu den Beats, passend zur Attitüde des Genres eben. Hinzu kamen die Street Credibility – die den vier braven Buben aus Schwaben und den Gymnasiasten von Fettes Brot schlicht abging – und der Inhalt. Der Rap war nun auch in Deutschland endlich dort angelangt, wo er in den USA entstanden war: in der Unterschicht, auf der Straße. Das hatte dann auch spürbare Effekte auf die Rapper mit deutschen Wurzeln der Folgejahre: Seeed um Peter Fox, Samy Deluxe und nicht zuletzt Dendemann sind vom »Die Da!?!«-Charme der Neunziger meilenweit entfernt.
Jene Einwandererkinder, die eigentlichen Erfinder des Deutschraps, sind alle um 1990 herum geboren. Genau die Generation also, an der es jetzt wäre, eine fette Anthologie mit Kostproben ihrer Auffassung vom Versemachen zu launchen. Das Problem ist nicht, dass es solche Verse nicht gäbe: Wer dem Rap-Künstler die gebundene Sprache als Fach streitig machen möchte, suche auf YouTube einfach nach Eminem. Das Problem ist, dass sie heute eher Lines heißen denn Verse. Es ist schick, als Herausgeber einer Gedichtsammlung auch Texte von Herbert Grönemeyer oder Judith Holofernes zu berücksichtigen oder für Bob Dylan den Nobelpreis zu fordern. Wenn überhaupt, dann ist der Liedermacher der legitime Nachfolger des Dichters. Vergleicht man aber den Deutschrap der Nullerjahre mit dem Großteil sogenannter junger Dichter aus Hildesheim oder Leipzig, wo momentan scheinbar die große Langeweile und Gegenwartsferne vorherrscht, atmen manche der Lines förmlich die Luft bundesrepublikanischer Gegenwart aus. Originell dagegen scheint es, als Bildungsbürger mit vor Ironie triefender Feder den deutschkurdischen Rapper Haftbefehl zum  »deutschen Dichter der Stunde« zu erklären (die ZEIT Nr. 49/14), nur um zwischen den Zeilen auf ein scheinbar unterkomplexes, mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigtes, oberflächliches und obendrein auch noch grammatikalisch inkorrektes Gesabbel mit Mikro abzustellen. Literatur, so geht das Argument, stellt nunmal Bezug her zu dem, was schon da ist, und reiht sich in Traditionen ein – und sei es durch die Geste der Ablehnung aller Traditionen.

Video bei VIVA statt Debüt bei Luxbooks

Was aber gibt es denn, zum Beispiel, das näher an der Kultur der Republik der Nullerjahre anliegt, als den König von Deutschland von Eko Fresh? Verortung im Jetzt, das geht so:

EKO wirft die Hits wie Dirk Nowitzki
Die Leute fragen: »Oh, jetzt wirst du rich wie.«
Nee, es geht bei dem was ich durch Hits verdien

alles drauf beim nächsten Gerichtstermin
Und ich will Bohlen um Millionen verklagen
Er hat mich nicht in seinem Buch gelobt, ohne zu fragen

Ich wär lieber niedlich, wie Jeanette Biedermann
und switche mein Image, und fang
Jetzt wieder an
Alles was ich bisher sagte, nehm’ ich zurück
Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück

Jeder Mensch ist Mensch, weil er kifft und weil er trinkt,
weil er Optik schiebt, weil er fickt und weil er stinkt.

Du hast kein Bock, schreib in einem Fax zu Schröder
Meine Fratze wär blöder, als die von Atze Schröder
Falls sie fragen, »Wer ist der Rapper überhaupt?«
Es ist E-K-O der Rapper überhaupt

Schröder, Bohlen, Biedermann und Nowitzki, Grönemeyer und die Helden. Das ist ein Panoptikum der deutschen Popkultur der Nullerjahre. Guten Tag, guten Tag, homie, weil der Mensch, ja der ist Mensch – was wenn nicht Traditionsbindung liegt hier vor? Hier verortet sich ein Texter im Feld von anderen Texte(r)n und steckt seinen Platz ab. Wer sich das Musikvideo dazu anschaut, sieht den Musikproduzenten Thomas Stein und Roberto Blanco Eko vom Rand einer Bowlingbahn aus umgarnen, im Anschluss folgen mit dem verkannten Genie und der Betriebskritik sogar die wohl literarischsten aller Gesten:

Mama guck ich hab es geschafft
Das hier hab ich die letzten Jahre gemacht
Mein Video ist fertig und VIVA spielt’s nicht
Wie kann das sein, ich dachte VIVA liebt mich

Man ersetze Video durch den Debütband und VIVA durch den Verlag der Wahl – und zack, hat man das alte Bild vom unveröffentlichten Poeten. Aber genau hier liegt halt das Problem: Weil Musik das Medium ist, nicht die Schrift, kommen solche Lines für die ›Literatur‹ nicht infrage. Nochmal: Diese Texte werden gehört, gerappt, erinnert, als Ohrwurm durch den Alltag getragen, aber nicht gelesen. Die Frage, ob das bei einem Schwellengenre wie der Lyrik, die zwischen Literatur und Musik schwebt, nicht ohnehin der Normalfall wäre, und bei der Schriftfixierung der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert nicht einfach ein Missverständnis vorliegt, darf man sich stellen.
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur würde sich einen großen Gefallen tun, als vollgültig anzuerkennen, was längst schon seine Spuren in der Kultur der Bundesrepublik hinterlassen hat. Woher wissen wir denn, dass wir Deutschen besonders gerne TV-Total gucken? Andere Kulturen, die kommen und die deutsche aus Not annehmen müssen, mit ihr aufwachsen, spiegeln nicht zuletzt die Merkwürdigkeiten und Besonderheiten der eigenen wieder. Und ihre Skurrilitäten. Was für eine bessere, stabilisierendere Selbstvergewisserung einer sogenannten Kultur oder Gesellschaft und ihrer Riten kann es denn geben als Menschen, die sie unter Umständen interessant genug finden, sie anzunehmen und dann in ihren Besonderheiten überzeichnen. Das zeigt doch erst, was ›uns‹ ausmacht. Und nicht acht Vorfahrengenerationen in Brunsbüttel. Aber andere Baustelle.

Ob Eko Fresh Jan Wagner kennt?

Sind Gedichtanthologien also überhaupt noch zeitgemäß und in der Lage, tatsächlich abzubilden, was in dem Genre, das sie bedienen sollen, vorgeht? Oder sprengen neue (alte) Formen des Lyrischen ganz einfach die Möglichkeiten der klassischen Anthologie – und damit unseren Lyrikbegriff? Dabei ist das Genre lebendig wie nie, allein: seine Messmechanismen und Endgeräte sind hoffnungslos veraltet. Deutschsprachige Gegenwartslyrik der 10er-Jahre und Rap existieren ohnehin parallel. Gut so. Nur: Warum können sie nicht auch in der Kritik gleichberechtigt nebeneinander bestehen? Es schmückt schon ungemein, auf einer Germanistenparty heute Tocotronic als möglicherweise stilbildend für die Lyrik kommender Generationen zu bezeichnen. Aber warum, bitte, inszeniert sich denn ein Rapper wie Samy Deluxe in seinem Musikvideo noch mit Federkiel und schwarzer Tinte – und wiederholt so die klassischen Symbole des armen Poeten der Romantik? Mach neu!, fordert Peter Fox und stilisiert sich so zur »Abrissbirne für die deutsche Seele.« Würde man nachsehen, wie oft der Begriff »Lyrics« täglich im Vergleich zur älteren Schwester »Lyrik« gegoogelt wird, wäre die Sachlage ohnehin klar, auch ohne den aktiven Rückbau der hiesigen Landeskultur. Zu fast jedem Song gibt es mittlerweile den Text online auf entsprechenden Plattformen. Wie viele Prozent der jungen Lyrik steht online?
Weg mit den Anthologien also! Oder, weniger maximal gefordert: Hört auf, gute Lyrik zu ignorieren. Dann leben wir vielleicht bald nicht mehr in dem Land, wo, wie Samy Deluxe textet, »der Soul keine Seele hat, der Rock nich’ rockt […] Und der Rap so ‘ne schlechte Reputation hat«, sondern machen aus der gefühlten Koexistenz von aufgeschriebener und aufgeführter Lyrik eine echte. Das, was abgelöst werden soll, weiß ohnehin meist, was sein Feind ist: Das Neue. Die, die ablösen sollen oder wollen, die Avantgarde, wissen nicht oder nur in den seltensten Fällen, dass sie das wollen. Sie tun es einfach. Weg mit dem alten Staub, und drauf los geschafft. Jan Wagner weiß wohl wer Eko Fresh ist. Ob Eko Fresh Jan Wagner kennt?