Trip ins Otherland


Science-Fiction in Kreuzberg. Jakob Schmidt vom Berliner Buchladen Otherland im Gespräch mit den metamorphosen über lesenswerte Neuerscheinungen, umstrittene AutorInnen, die »Culture Wars« und Vorurteile gegenüber der Science-Fiction-Literatur.

Ein Interview – und ein Vorgeschmack auf die metamorphosen Nr. 15.

von Luzia Niedermeier

Kreuzberg. Otherland. Der gut sortierte Buchladen bietet eine große Auswahl an deutsch- und englischsprachiger Science-Fiction- Horror- und Fantasyliteratur für Neulinge und Eingefleischte. Die drei Besitzer Wolfgang Tress, Simon Weinert und Jakob Schmidt lesen selbst mit Begeisterung Science-Fiction. Das lassen schon die Veranstaltungen vermuten, die sie regelmäßig organisieren. Immer wieder finden im Otherland Lesungen statt, bei denen AutorInnen ihre aktuellen Bücher vorstellen. Einmal im Monat lädt das Otherland zum »Gatherland«, bei dem gemeinsam über die jüngsten Leseerlebnisse geplaudert wird. Seit Sommer 2016 gibt es außerdem den »Otherland Speculative Fiction Book Club«, in dem ebenfalls einmal im Monat eine englischsprachige Neuerscheinung besprochen wird. Doch auch wer sich nicht sofort in die Runde des »Book Clubs« traut, sollte dem Laden einen Besuch abstatten: Dank der ausführlichen Beratung durch die MitarbeiterInnen brauchen Neugierige, die sich bis jetzt noch nicht mit Science-Fiction beschäftigt haben, ob der großen Auswahl keine Angst zu haben, zwischen Cyborg- und Universe-Covern verloren zu gehen.

metamorphosen: Innerhalb der Science-Fiction-Literatur gibt es ja die unterschiedlichsten Subgenres. Ich habe mal einige recherchiert: Transrealism, Weird West, Cyberpunk oder Space Opera waren Begriffe, die mir begegnet sind. Sind diese Subgenres wirklich geläufig bzw. gibt es unter den SF-Lesern leidenschaftliche Fans der Subgenres? Was wird am meisten gelesen?

Otherland: Die beiden geläufigen Genres neben Space Opera – also die Sorte SF, in der es in der Regel um Raumschiffe geht, die von Planet zu Planet fliegen und in der gerne mal das Schicksal des Universums auf dem Spiel steht – sind Cyberpunk und Steampunk. Cyberpunk ist immer noch ein ganz populärer Begriff: dahinter verbirgt sich eine ambivalente Verbindung von »High Tech« und »Low Life«. Kaputte, oft rebellische Antihelden, die unter der Herrschaft der Megakonzerne leben. Die beispielsweise aus dem Film Blade Runner vertraute Noir-Ästhetik, die da dran hängt, ist inzwischen in der ganzen Science-Fiction-Literatur verbreitet. Dieses Subgenre wird immer wieder ironisiert, gebrochen, kommt als Revival zurück und und und. Es ist wirklich wahnsinnig erfolgreich. Im Steampunk hingegen ist eher der nostalgische Bezug auf das 19. Jahrhundert präsent, der dann allerdings durch verrückte Technologie und barock-überdrehte Ästhetik aufgemotzt wird. Ich glaube, das ist tatsächlich mehr eine Sache der visuellen Ästhetik als ein klarer Genrebegriff. Es gibt ja auch Steampunk-Conventions, bei denen es in erster Linie um Verkleidungen und das Basteln von absurden Maschinen geht; da wird ein fiktives 19. Jahrhundert nicht nur im Kopf erschaffen.

metamorphosen: In einem SF-Onlineforum bin ich auf einen Post gestoßen, der sich mit Vorurteilen gegenüber der Science-Fiction beschäftigt. Die Autorin des Threads fragte sich, woran es liege, dass »von Literaturfans oft sogar verächtlich« abgewunken werde, wenn es um Science-Fiction geht. Hast du diese Erfahrung auch gemacht? Bleiben SF-Fans meist unter sich, oder gibt es mittlerweile mehr Interesse von LeserInnen anderer Genres?

Otherland: Es wird ein bisschen offener, auch dadurch, dass momentan sehr viel Science-Fiction in den Mainstream einzieht, z.B. durch Fantasy-Serien wie Game of Thrones. Gerade erst ist wieder eine sehr erfolgreiche SF-Romanreihe als Fernsehserie verfilmt worden: The Expanse. So was richtet sich ja nicht nur an ein SF-Lesepublikum, sondern an eins, das einfach gerne komplexe und aufwändig produzierte Fernsehserien sieht. Was allerdings den Buchmarkt betrifft, ist die Trennlinie immer noch ziemlich scharf gezogen, zumindest in Deutschland – auch von der Gestaltung der Bücher her. In letzter Zeit ist allerdings eine gewisse Aufweichung der Grenzen feststellbar: Da gibt es die Veröffentlichungen von deutschen Autoren, beispielsweise von Georg Klein (Die Zukunft des Mars), die in Deutschland als Literaturautoren anerkannt sind, die aber auch ganz viel Science-Fiction gelesen haben und dadurch beeinflusst wurden. Die könnten in den USA genauso gut in einer SF-Reihe erscheinen, das wäre da völlig angemessen.

metamorphosen: Und was genau soll diese Unterteilung zwischen Science Fiction und »Literatur« rechtfertigen?

Otherland: Das Vorurteil ist diffus. Es wird angenommen, dass es einen Begriff von literarischer Hochwertigkeit gibt und man geht davon aus, dass Science-Fiction diese Hochwertigkeit nicht erfüllt. Und andersherum: wenn ein Science-Fiction-Werk die Kriterien der Hochwertigkeit offiziell erfüllt, dann ist es keine Science-Fiction mehr. Das ist natürlich ein Zirkelschluss. Dabei ist es ja eigentlich viel interessanter, welche Motive auftauchen. Wenn ich jetzt etwas lesen will, was sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt, ist das Buch dann Science-Fiction oder »Literatur«: Was soll’s, es geht ja um bestimmte Themen und Zugänge. Und wenn man bei allem, wo Science-Fiction draufsteht, von vornherein annimmt, das sei irgendwie anspruchsloser Blödsinn, dann entgeht einem natürlich wahnsinnig viel. Aber andererseits: Man kann eh nicht alles lesen, was interessant ist. Wenn Leute da Berührungsängste haben, muss ich sie ihnen auch nicht zwanghaft ausreden. Die finden immer noch genug Gutes zu lesen.

metamorphosen: »Intern« setzt sich die Science-Fiction-Leserschaft mit solchen Vorurteilen auseinander, auch mit dem, dass Männer bessere SF schreiben sollen. Tatsächlich gibt es hier mehr Autoren als Autorinnen. Weil sie es wirklich besser können? Oder ist das ein Vorurteil, das gerade im Wandel begriffen ist?


Otherland: Ich glaube schon, dass das im Wandel ist. Es gab aber schon immer auch Autorinnen. Mary Shelley hat Frankenstein geschrieben, das wird von ganz vielen als einer der Ur-Science-Fiction-Romane angesehen. Klar, ich vermute mal, die überwiegende Mehrheit der Science-Fiction-Autoren bestand immer aus Männern. Es gibt allerdings schon eine starke Zunahme von präsenten Autorinnen in den letzten zehn Jahren. Ich habe keine genauen Zahlen vor Augen, aber dass in letzter Zeit viele Autorinnen für Preise nominiert werden und Preise gewinnen, spricht dafür, dass Vorurteile gegen Science-Fiction-Autorinnen langsam verschwinden. Ich erlebe zwar immer wieder männliche Leser, die ein Buch von einer Frau lieber nicht kaufen, weil sie sagen, wie Frauen schreiben, da kann ich mich nicht reindenken … das ist aber schon eher selten. Ich denke, dass sich da vor allem in den USA viel getan hat.

metamorphosen: Inwiefern?

Otherland: Es gibt in den letzten Jahren in Nordamerika so ein Phänomen, das man im Allgemeinen als die »Culture Wars« bezeichnet. Also der Kampf zwischen der sogenannten »Political Correctness« und den Leuten, die sich als die inszenieren, die das sagen, »was das Volk eigentlich denkt«, als die ganz »Normalen«, die gegen all die nervenden Frauen, Queere und Nicht-Weiße sind. Diese »Culture Wars« sind auch in der SF stark ausgebrochen. Da gibt es z.B. ein großes Gerangel um den wichtigsten Science-Fiction-Preis. Es hat sich im Prinzip eine rechte Kulturbewegung gegründet, die sagt, sie wolle diesen Preis »zurückgewinnen«, weil er gerade nur noch an Frauen und People of Color vergeben werde, die irgendwelche Spezialthemen behandeln und irgendwelchen Genderkram verbreiten würden und die irgendwie schwul und pervers und komisch sind – und die dürften ja auch irgendwie schreiben, aber die sollten bitte unter sich bleiben und die großen Preise sollten doch nicht für Spezialthemen vergeben werden, sondern für richtige, normale Science-Fiction, wie man sie kennt und liebt. Es gibt da diese »Norm«: weiße Männer schreiben Science-Fiction über weiße Männer und alles andere sind Sonderthemen. Und ich glaube, das löst sich gerade ganz stark auf. Und dagegen gibt es eben diese starke Abwehrreaktion.

metamorphosen: Neben dieser großen Debatte: Gibt es weitere Streitpunkte unter Science-Fiction-LeserInnen?

Otherland: Der große Streitpunkt spaltet vielleicht nicht die Gemeinde, aber zieht wahnsinnig viele Trennlinien: die Frage, was ist Science-Fiction? Star Wars ist da immer das beliebteste Beispiel, wo sich dann die Fans streiten, ob das Science Fiction oder Fantasy mit SF-Ästhetik ist. Manche definieren Science-Fiction über die Wissenschaftlichkeit, es muss irgendwie vorstellbar und plausibel sein, keine pure Spekulation. Andere sagen, Science-Fiction bezeichnet eine bestimmte Ästhetik, es geht nicht darum, ob es wissenschaftlich ist. Da gibt es viel Streit und Abgrenzungskämpfe. Da sind wir auch schon wieder zum Teil bei den »Culture Wars«. Da sagen einige, das ist doch gar keine Science-Fiction, das ist Message-Fiction, die wollen uns eine Botschaft andrehen.

metamorphosen: … das sind wahrscheinlich eher die LeserInnen, die bei Science-Fiction mehr auf Spannung und Action achten.

Otherland: Vielleicht auch die, die leugnen, dass in ihren Büchern auch eine Botschaft drin steckt, die aber einfach nur die Geläufigere ist.

metamorphosen: Gibt es eine/n Science-Fiction-AutorIn, den/die alle kritisieren, den/die aber trotzdem alle lesen?

Otherland: Wer dem eigentlich am nächsten kommt ist H.P. Lovecraft. Der hat in den zwanziger Jahren Horrorliteratur mit starker Tendenz zur Science-Fiction geschrieben. Ein sehr einflussreicher Autor, der stark auf Stilebene und auf inhaltlicher Ebene kritisiert wird, aber auch auf einen hohen Sockel gestellt und wissenschaftlich rezipiert wird. Der wird nach wie vor extrem viel gelesen, oft aber mit relativ großer Distanz: Die einen sagen z.B., der konnte eigentlich nicht schreiben. Die anderen sagen, der war brillant, ihr habt’s nur nicht verstanden. Er ist jemand, der literarisch ganz umstritten ist und dem sich kaum jemand aus Science-Fiction-Kreisen so ganz entziehen kann.

metamorphosen: Was ist dein absolutes Science-Fiction-Lieblingsbuch und warum würdest du es weiterempfehlen?



Otherland: Das ist eine Frage, die ich schwer beantworten kann. Das wechselt auch jedes Jahr. Aber ein Buch, das immer wiederkehrt ist Samuel R. Delanys Dhalgren. Ein sehr, sehr sonderbares, fast apokalyptisches Buch über einen jungen Mann, der in eine Stadt kommt, die auf eine seltsame Art einen Untergang erlebt hat, in der aber immer noch Kleinfamilien leben und den Anschein von Normalität aufrecht erhalten. Es ist ein Buch, in dem der Autor Fragen von Sexualität und Rassismus nachgeht. Delany ist einer der großen afroamerikanischen Science-Fiction-Autoren, der inhaltlich und stilistisch immer ziemlich wildes Zeug gemacht hat. Es ist ein Buch, das einen unheimlichen Sog auf mich ausübt. Es baut eine starke Atmosphäre auf, gleitet manchmal ins Essayistische ab – es ist also nichts, was ich empfehlen würde, wenn man einfach so mal etwas lesen will. Aber wenn man Lust hat, sich auf etwas Eigenwilliges einzulassen, dann ist das ein Wahnsinnsbuch, das einen – zumindest, wenn es einen im richtigen Moment erwischt – tief beeindrucken kann.

metamorphosen: Die spannendste Neuerscheinung in der Science-Fiction-Literatur dieses Jahr?

Otherland: Ich lese gar nicht so viel Aktuelles. Ich bin oft eher so ein Jahr hinterher. Ich würde jetzt eins von 2015 nennen, das aber 2016 auf Deutsch erscheint, vielleicht zählt das noch. Es ist von Kim Stanley Robinson, eigentlich schon ein Veteran der Science-Fiction-Literatur, der aber auch ein paar historische Romane geschrieben hat. Das Buch heißt Aurora, es geht um eine Expedition in ein anderes Sternensystem mit einem Generationenschiff, also ein ganz bekanntes Motiv. Robinson schreibt auf eine ruhige Art, die Texte sind dicht an Figuren Gleichzeitig ist er auch immer ziemlich wissenschaftlich, aber ich finde, dass er auch sehr abstrakte und komplexe Themen unglaublich gut auf einer menschlichen Ebene, über die Figuren, vermittelt. Speziell bei Aurora fand ich spannend, dass er das ganze Thema des Fortschritts-Optimismus untergräbt, ohne dabei dystopisch zu werden. Es gibt im SF-Bereich die Tendenz, dass entweder alle Probleme durch Technik überwunden werden oder aber, dass Technologie alles zerstört und uns Menschen kaputt macht, was dann oft in dystopischen, fast apokalyptischen Irrsinn abschliddert. Robinson schafft in dem Buch einen Balanceakt dazwischen: Ein gutes Leben kann mit Hilfe von Technologie bewerkstelligt werden –, aber die Erzählung driftet niemals in die Vorstellung von totaler »Machbarkeit« durch Technologie ab. Das Buch hat die Science-Fiction deshalb total auf den Kopf gestellt: Einige Leser waren wirklich sauer, dass die Grundidee der Science-Fiction völlig zerstört wird durch das, was er da macht. Ich fand aber, dass das Buch eben eine Doppelrolle vereint; also Liebe zum Genre und Kritik aus dem Genre heraus, eine Selbstkritik. Ein sehr interessantes Buch, weil es für die Science-Fiction unglaublich viel Diskussionspotenzial bietet.