Humanismus Morgen

von Karl Clemens Kübler

In einem Interview mit den Tagesthemen forderte die designierte Staatsministerin für Digitales, Dorothee Bär (CSU) eine stärkere Digitalisierung der Schulen. Bär sagte der ARD, dass Programmieren in die Lehrpläne der Grundschulen gehöre, und es »so wichtig wie Lesen und Schreiben« sei. Dass Schüler Tablets im Klassenzimmer benutzen, solle Norm sein, und »kein Privileg nur von Kindern in Privatschulen«.

Vielerorts liest man derzeit, Lehrpläne und Schulbildung sollten reformiert werden. Es solle den Kindern Praktisches beigebracht werden, Informatik müsse Pflichtfach sein, um Kinder auf die Zukunft vorzubereiten. Es sind oft genug die alten Sprachen, deren Sinn und Zweck in Zweifel gezogen werden, seien deren Sprecher doch tot und entbehre diese Bildung der unmittelbaren Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Als Geisteswissenschaftler macht man es sich oft leicht, diese Modernisierungsvorhaben reflexartig abzuwehren, obgleich sie ihre Berechtigung haben. Doch bleiben viele Argumente für die klassischen Philologien im Unterricht ungenutzt, auch wenn sie gerade dem postmodernen Menschen der Informationsgesellschaft einiges zu geben hätten. Gerade die griechische Antike und deren Werke können einen großen Beitrag leisten gegenwärtige Leser in Sachen Technologie und Technologiekritik zukunftsfähig zu machen. Denn entgegen dem Bild, die griechische Antike sei ein Zustand der Ursprünglichkeit gewesen, eine Quelle der Zivilisation, in der alles erstmalig und rein vorgelegen habe, war sie vielmehr ein Zeitabschnitt, der sich seiner eigenen Geschichtlichkeit bewusst war. Die griechischen Autoren wussten, dass sie einer entwickelten Zivilisation angehörten, deren Wissen auf dem Wissen anderer Zivilisationen vor ihnen, den Ägyptern, den Zivilisationen Mesopotamiens und den früheren Kulturen des Mittelmeerraums gründete. Das Verhältnis zur eigenen Technologie war so ein grundlegendes Thema ihrer Gedankenwelt.

So sehen wir am Ursprung der griechischen Literatur den Handwerker Odysseus, seiner Identität beraubt, der mithilfe seiner techne, Listen ersinnt und Gegenstände baut, um sein Leben wieder zurückzuerobern. Als geschickter Schiffsbauer und Schreiner schafft er es, sich durch Technik aus Situationen der Machtlosigkeit zu befreien – nur um bald wieder in solchen festzustecken. Der Philosoph Hannes Böhringer nennt das den Kreislauf von amechania und mechania. Die homerischen Epen lehren uns einerseits die Bedeutung der Technologie zur Überwindung unmittelbarer Problemstellungen. Andererseits zeigen sie uns ihre Grenzen auf: Der Preis, den wir für die technische Unterwerfung der Welt bezahlen, ist mitunter hoch. So kehren bekanntlich nur wenige der Helden Homers in ihre alten Leben zurück, obwohl sie dank pferdeförmiger Kriegsmaschine Troja zuletzt zerstören können. Und die Schmiedekunst erschafft zwar die Rüstung, doch rettet sie weder Achilles noch Patroklos vor ihrem Los. Allein der Kampf zieht sich in die Länge.

Die Griechen erkannten den zynischen Kreislauf der Technologie. Durch sie lösen wir Probleme der Gegenwart und schaffen Probleme der Zukunft, die wir noch nicht absehen können und so navigieren wir uns durch die Zeit, Werkzeug auf Werkzeug häufend. Ein technischer Vorteil des Helden Ajax ist der Schild, der wie eine zweite, harte Haut den Körper vor den Hieben und Pfeilen der Gegner schützt. Doch wird er unbeweglich dadurch, eingeschränkt in seiner Bewegung und somit unfrei. Die Technologie ist auch eine Bürde, die geschultert werden muss. Denn ein Zurück, hinter die Technik in Form von Pfeil und Bogen, gibt es nicht.

Auch Ikarus’ Geschichte ist bis heute bekannt, doch lohnt sich der Blick weg vom übermutigen Jungen auf seinen Vater, den Erfinder Dädalus, der die wundersamsten Maschinen baut. Als die kretische Königin Pasiphae in wilder Liebe zu einem Stier entbrennt, baut Dädalus ihr eine Konstruktion, dank der sie mit dem Tier schlafen kann. Nachdem Pasiphae schwanger geworden ist und einen Jungen mit Stierkopf auf die Welt bringt, wird klar, dass durch Dädalus’ technisches Geschick eine Grenze zwischen Mensch und Tier überschritten wurde. Um diese Grenzüberschreitung wieder rückgängig zu machen, baut Dädalus das berühmte Labyrinth, in dem der Stiermensch eingeschlossen wird. Doch was einmal entborgen wurde, lässt sich nicht so einfach wieder verbergen: Die Opferung von sieben jungen Frauen und Männern alle neun Jahre als Tribut wird zum Fluch des kretischen Königreichs. Erst Theseus setzt dem mithilfe des handwerklich gesponnenen Fadens der Ariadne ein Ende. Technik überwindet so die Fehler der Technik.

Während der Urvater aller menschlichen Einsicht in die Welt, Prometheus, von Johann Wolfgang von Goethe als feuerbringender, menschenbefreiender Renegat interpretiert wurde, geben die klassischen Prometheusfiguren Vielschichtigeres preis. So bringt der Prometheus des Aischylos den Menschen nicht nur das Feuer und den Beginn der technischen Entwicklung, sondern auch die blinde Hoffnung. Die blinde Hoffnung auf die menschliche Erkenntnis? Die Ambivalenz darin ist gerade in Zeiten des Glaubens an die Verbesserung der Welt durch umfassende Technisierung gedankenanregend. Wenn wir Heranwachsenden also mehr Werkzeuge an die Hand geben wollen, die Welt noch effektiver und noch umfassender zu durchwalten, so ist es umso drängender, ihnen gleichzeitig die Gedanken derer zugänglich zu machen, die sich bereits so intensiv und nachhaltig mit dem Wesen der Technik beschäftigt haben. Zweitausend Jahre sind eine lange Zeit, allerdings nicht so lange, als dass uns die Gedanken der Menschen nicht immer noch grundlegende Orientierung geben könnten. In den griechischen Autoren liegt großes Potential zum Nachdenken über unsere technologische Zukunft.