Two lovers

von Lisa Krusche

»Opal Blue«, sage ich. Luca sitzt mitten auf dem ausgerollten Leinen, im Schneidersitz, ihre Fußsohlen fast schwarz, sie fährt mit ihrer Zunge über den Klebestreifen, zieht den linken Nasenflügel hoch, linker Mundwinkel Richtung Ohr, kneift das Auge zusammen, Reduktionsgrinsen, und klebt das Paper zu.
»Blau ist gut«, sagt Luca. Sonnenlicht tanzt auf dem farbfleckigen Atelierboden.
»Hab für jeden einen.« Luca reicht mir den Joint und zieht einen anderen hinter ihrem Ohr und unter ihren Locken hervor.
»Auf kein Kind.«
»Auf die Freiheit«, sage ich.
»Auf die Kunst.«
»Auf uns und alles, was wir wollen«, sage ich. Wir stoßen mit den Joints an, heute wird gefeiert, heute ist Jubiläum.

Ich saß in unserer kleinen WG-Küche, trommelte mit den Fingern auf den Tisch, starrte in die Kaffeetasse und klammerte mich so lange es ging an den Gedanken, der Kaffee sei mir fremd geworden und nicht ich. Auf dem Tisch Geschirrstapel, eine Fliege krabbelte über die Essensreste. An meinem Hals eine hitzige Röte. Das Pochen des Herzens und irgendwann, unüberhörbar, das Unterbewusstsein: FUCK.

»Hartmut wäre stolz auf uns«, sagt Luca und deutet auf die Leinwand. Drei Mal fünf Meter. Mach größer! Das ist das Mantra unseres Profs, als läge die Größe nur in der Größe. Er will uns bewahren in die Falle der »femininen« Miniatur zu tappen. Da steuert die Tradition, der unterbewusste Diskurs die Aussagen. Wie dem endlich entkommen? Luca streift den Pinsel an ihrem Oberschenkel ab und guckt, die rechte Fußsohle ans linke Knie gedrückt einbeinig stehend, auf die eben gemalten Linien und schüttelt den Kopf.
»Fast lustig eigentlich, dass die Ärztin ausgerechnet heute verklagt wurde.«
»Ja«, sage ich, »fast.«

»Was brauchst du in der Stadt?«, fragte Luca. Sie mir gegenüber in der S-Bahn, Beine ausgestreckt und zwischen meinen eingeklemmt, ihr Kopf an der Scheibe, zu früh für alles, obwohl es schon fast Mittag war. 
»Ich hab Schiss, ich kauf mir ’nen Test, zur Sicherheit.«
»Standardparanoia oder spezieller Grund?«
»Der Kaffee schmeckt mir nicht mehr.«
»Oha.« Die schmalen Brauen unter dem Pony, die sich zusammenzogen. »Schreib mir sofort.«
»Mache ich«, sagte ich.

In unserem tageslichtlosen Badezimmer, noch halb in der Hocke, die Hose um die Knöchel, sah ich der Pisse zu, wie sie sich langsam durch dieses kleine schicksalsentscheidende Feld zog. Kontrollstreifen: check. Du steckst richtig tief in der Scheiße: check. Der nächste Test wiederholte nur hämisch die gleiche Parole. Seit du das erste Mal gevögelt und das erste Mal Angst gehabt hast, weißt du: jetzt drei Anrufe tätigen. Frauenarzt, Pro Familia und Luca. Ergebnis bestätigen, alle weiteren Schritte absprechen, Pflichtberatungsgespräch abhaken, Partnerin in Crime ins Boot holen.
»Und?« Lucas Stimme und sofort wieder Ruhepuls.
»Worst case.«
»Okay. Ich komme sofort nach Hause. Ruhe bewahren. Wir machen einfach genau das, was du willst.«

»Eigentlich ist es gar nicht lustig«, sage ich.
»Ich weiß«, sagt Luca.
»Alles geht rückwärts und so eine Welt will ich nicht«, sage ich.
»Ja«, sagt Luca. Sie wischt mir mit ihrem Ärmel den Rotz unter der Nase weg, ich greife nach ihrer Hand und lege meinen Kopf auf ihre Schulter.

Heute wurde die Ärztin Kristina Hänel zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt, weil es auf ihrer Webseite die Möglichkeit gibt, Informationen über Schwangerschaftsabbrüche einzuholen.
Abtreibungsgegner hatten die Ärztin in Berufung auf Paragraph 219a angeklagt. Ein winziger Teil in der Chronik meiner Veräußerung, der Wertlosigkeit meines Willens. Mein Ich ist nie ganz meins. Subjekt nur als Fragment, Freiheit nie.

»Was will man ausrichten gegen die Regentschaft institutioneller Wahnvorstellungen?«, frage ich.
»Kunst«, sagt Luca. Ich schnaube. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Hast du mehr zu bieten?«
»Ist doch krass«, sage ich, »es ist nicht die Intensität der Erfahrung von Abtreibung an sich, sondern die Intensität des gesellschaftlichen Diskurses über Abtreibung, die einen anspornt, darüber zu arbeiten.«
»Willkommen«, sagt Luca, »im Herzen dieser verlorenen Zeit.«

Zwischen Beratungs- und Abtreibungstermin lagen zwei Wochen. Zeit, die du warten musstest. Zeit, in der dein Körper dir fremd war und dein Geist in dieser Fremdheit verloren ging. Wie du irgendwann vor die Tür und in den Supermarkt gingst und zurückschrecktest, weil alles so grell und dumpf zugleich war. Eine Erinnerung an ein Früher, das eigentlich eben gerade erst gewesen ist. Da standest du vor den Waschmitteln und versuchtest dich selbst aufzurufen. Aber da warst du nicht, du warst anderswo, abgedrängt, vielleicht auch zurückgewichen. Verblasst im Schweigen. Du sprachst kaum, du sprachst nicht. Dinge, über die man nicht redet. Weil immer noch diese repressiven Narrative regieren; auch dich. Restriktion der Scham. Dein Schweigen: die Folie auf der sich der hässliche Diskurs weiterschreiben kann? Wie du zu keiner Sekunde, die du vor den Waschmitteln standest, über all das nachdachtest. Wie du bloß die Waschmittel anstarrtest, als sähest du so etwas zum ersten Mal, und versuchtest Teil dieser Supermarktrealität zu sein. In einem Leben, das sehr plötzlich deinem eigenen sehr fern war (und doch! deins war).

Wir tauchen unsere Pinsel in Malaga.
»Die meisten, denen ich davon erzähle, dass ich über das Thema arbeiten will, und zwar unter der Prämisse, dass es einfach die richtige Entscheidung war, schnauben, als sei es das Naivste, was sie je gehört haben und berichtigen mich, dass es in einer solchen Situation zwangsläufig ein Hin und Her zwischen den Möglichkeiten geben müsse. Als müsse es immer den Schmerz geben, als sei das Trauma unausweichlich.«
»Ich find’s gut. Aber mach es nicht so Tracey Emin-mäßig.«
»In echt liebst du die doch.«
»In echt liebe ich nur mich.«
»Denkst du, die Vorstellung einer Frau, die ohne zu zögern die Mutterschaft ablehnt, ist in den Köpfen der meisten auch heute noch eine Unmöglichkeit?«
»Auf jeden. Und ich glaube, Lars von Trier hatte total recht und wir müssen alle abballern, die uns unser Streben nach mehr als dem Sonnenaufgang verbieten wollen.« Sie grinst, steckt die Hand in die Jackentasche, zieht sie wieder raus, zur Pistole geformt, streckt den Arm in die Luft. »Peng, peng. Möge die Knarre nachholen, was eure Mütter damals versäumt haben. It’s a gift to the world to not have babies. Ya know.« Sie lässt den Arm und dann sich auf den Boden sinken.

Die Frauenärztin drehte den Bildschirm von dir weg, bevor sie mit der Untersuchung anfing.
»Zeigen Sie mal«, sagtest du.
»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte die Ärztin.
»Ich schon«, sagtest du. Sie drehte den Bildschirm zu dir.
»Ceci n’est pas un bébé«, sagtest du und lachtest ein bisschen. Die Ärztin drehte den Bildschirm wieder weg.
»Der Verrat der Bilder«, sagtest du in dem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch, den Witz durch Erklärungen zünden zu lassen. Ab wann darf man nicht mehr lachen?
»Sechste Woche«, sagte sie, nannte dir die Optionen und reichte dir eine Liste mit Nummern von Tageskliniken.
»Lassen Sie sich Zeit für die Entscheidung.«
»Ja«, sagtest du. An der Wand die vor Freude überlaufenden Grußkarten, frische Eltern mit ihren frischen Babys, viel Erschöpfung, viel Lächeln. Der Gedanke, heute ist echt nicht der erste Tag, an dem dir auffällt, dass es diese Option gibt, und es ist auch echt nicht der erste Tag, an dem du darüber nachdenkst, wie du damit umgehen willst, und es ist echt nicht der erste Tag, an dem du weißst, wenn du eine Grußkarte schreibst, dann allein mit deinem fett grinsenden Gesicht.

Das erste und einzige Mal, das du Nationalstolz empfandst: als du das Antragsformular für die Kostenübernahme bei der Krankenkasse ausfülltest. Weil du dich nicht verschulden, weil du nicht in ein anderes Land fahren und unter lebensgefährdenden Maßnahmen einen Eingriff durchführen lassen musstest. Wie seltsam eigentlich sich darüber zu freuen, wie seltsam darauf stolz zu sein, wie seltsam, das nicht als selbstverständlich zu empfinden.

Luca hat Bier und eine bunte Tüte am Sternchenkiosk gekauft. Sie beißt in einen grünen Smiley und zieht daran, bis ein Stück abrupt abreißt und ihre Hand so viel Schwung hat, dass sie ein Glas Wasser mit Farbe umschubst. Es zerbricht, die Flüssigkeit verteilt sich auf dem Bild.
»So ein Abfuck.«
»Ist doch gut«, sage ich, »sieht cool aus.«
»Nee, das mein ich gar nicht. Dass man immer noch diese Kämpfe kämpfen muss. Die Idioten da draußen. Dass wir fürs Vögeln immer mehr opfern müssen als jeder Kerl.«

»Sie sollten sich auch Gedanken über Verhütung machen, für die Zeit nach dem Eingriff«, sagte die Frau, die dir an dem Holztisch gegenübersaß. Lachapelle, Early Fall, dachtest du. Sie, mit ihren kurzen roten Haaren und dem Rattenschwänzchen im Nacken, und der Raum, mit den verblichenen Postern an den Wänden, die Ecken traurig herabhängend, Machs Mit, Kenn dein Limit, erinnerten dich daran.
»Das habe ich. Es bleibt ein Dilemma.« Lächeln auf einmal, sie richtete sich auf, Verschwesterung plötzlich, ja leicht sei das alles nicht und gut auch nicht, Pest und Cholera, und ihr nicktet einander zu und dann drückte sie dir den Beratungsschein in die Hand, der bestätigte, dass du hier gewesen warst, dass du dir Gedanken gemacht hattest, dass du jetzt mündig genug warst, um diese Entscheidung zu treffen, die du schon längst getroffen hattest. Draußen regnete es, du setztest deine Kapuze nicht auf, die Tropfen eisig, sofort leichtes Zittern, Wasser lief durch ein Loch in deinem linken Sneaker, du bliebst mit Absicht so lange in der Pfütze stehen, bis beide Füße ganz nass waren. Alles oder nichts ist eine Sache des Glaubens, auch dieser Satz selbst. Ich schwanke ständig. Aber es gibt die Kunst, und das ist alles was ich weiß.

»Ey Pollock«, sagt Luca, ich drehe mich zu ihr, sie drückt mir mit dem Pinsel einen Punkt auf die Wange.
»Manchmal mag ich dich wirklich gar nicht.«
»Du liebst mich egal was«, sagt Luca und schmatzt auf die gleiche Stelle einen bierfeuchten Kuss.

Dir wurde schlecht von den Worten, dir wurde schlecht von den Bildern. Die Slogans, die grellen Farben, die vielen Schnitte. Du machtest die Augen zu, atmetest ein, aus, du würgtest, atmetest, ein, aus, du machtest die Augen auf. Du schaltetest den Fernseher aus. Du schaltetest ihn wieder ein, weil ohne nur Stille war und die Übelkeit dann noch lauter wurde. Sie legte sich über alles wie ein nasser Samtvorhang.
»Zieh das an«, sagte Luca und hielt dir ein extrem kurzes Kleid hin. Corsage, Tüllrock, Glitzer Glitzer.
»Warum?«
»Du musst mal raus.«
»Aber mir ist kotzig. Und alles stinkt. Du stinkst.«
»Hier«, sie warf dir eine Medikamentenpackung rüber.
»Zäpfchen. Damit du’s nicht ausbrichst. Rein da, Kleid an und dann raus. Wir gehen tanzen.«
Ihr wart noch keine hundert Meter weit gekommen, da übergabst du dich das erste Mal auf den Boden. Freiluftkotzen ist der Anarchismus der Schwangeren, dachtest du nicht. Nasser Samt auch im Kopf und auf dem Boden Zwiebackstückchen. Du nicktest dem älteren Ehepaar freundlich zu, das einen Bogen um die Lache machte. Ihre ausgekämmte Dauerwelle hüpfte beim Kopfschütteln sanft auf und ab. Du gingst weiter, komisch gekrümmt, Luca neben dir, die Hand auf deiner Schulter.
»Wir, wenn wir alt sind«, sagtest du und deutetest auf euer Spiegelbild im Fenster von Stern Kebab.
»Ich habe mich gut gehalten«, sagte Luca, »du eher nicht so.«
Heute hat Luca das Glitzerkleid an, es kommt Tomboy und sie dreht den Sound auf und schleudert ihre Arme in die Luft und ich trinke Sekt und rauche und reiche ihr die Flasche rüber und wir lachen und tanzen.
»Ich liebe dich, du Fotze«, schreit Luca gegen den Bass an. Auf ihren Lippen lila Farbspuren.
»Ich liebe dich auch«, schreie ich zurück.

Auf der Packliste der Tagesklinik stand: Ein langes T-Shirt (oder Nachthemd), dicke Socken, Binden (wegen der Nachblutungen), eine Unterhose. Die zogen sie einem an und sie klebten auch die Binde ein, der Gedanke haut mich immer noch fast vom Hocker. Wahre und bis dato unerreichte Intimität. Es war der schönste medizinische Ort an dem du jemals warst. Man stellt sich das alles immer so grausig vor. Ein runtergerocktes Hinterhaus, von Aktivisten umlagert, alles vom Geruch der Angst durchtränkt und in den Fluren hört man leise das Seufzen toter Babyseelen. Du hörtest sie nicht. Vielleicht waren die Decken in dem Altbau einfach zu hoch, oder die Seelen fielen durch die Ritzen des Dielenbodens in den Keller.

»Und was machen Sie so?«
Du mochtest den Anästhesisten sofort, wie er so Standardsmalltalk machte, während zwei OP-Schwestern deine zittrigen Beine in den Halterungen zurecht rückten. »Beste Aussichten, was?«, wolltest du sagen, aber es kam dir nicht über die Lippen. Du musstest plötzlich an Hansons Abortion denken, die Hand kurz über dem gewölbten Bauch, der leblose Körper unter dem Faltenwurf des Tuchs.
»Ich mache Kunst.«
»Davon können Sie leben?«
Und bevor du Nein sagen konntest, bevor du sagen konntest, dass es darum nicht ginge, dass es darum nie ginge, kribbelte es und du warst weg.

Kaum wieder bei mir, der Griff nach dem Handy, Luca anrufen. Luca die mich hergebracht hatte und draußen im Flur auf mich wartete.
»Ich hab’s geschafft. Ich lebe.«
»Your soul is free.«
»Bist du draußen?«
»Bin draußen.«
»Ich penn jetzt noch eine Runde. Ich liebe dich du Fotze.«
»Selber Fotze.«
»Sag es.«
»Was?«
»Sag es. Los. Ich bin high und blute. Ich hab’s verdient.«
»Ich liebe dich auch.«

Aus: metamorphosen #23