Die Erde ist eine Scheibe

Auszug aus 9 Notitzen über die Wahrheit 

von Stig Sæterbakken

1

London, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das erste Treffen zwischen John Hamish Watson und Sherlock Holmes, das in einem Krankenhauslabor stattfindet, wo Holmes die Tage mit – so heißt es – »planlosen und exzentrischen« Studien verbringt: Dr. Watson ist gerade aus Afghanistan heimgekehrt, um sich zu erholen, und die beiden werden einander am selben Tag von Watsons altem Studienkollegen Stamford vorgestellt, als es Holmes geglückt ist, nach unzähligen chemischen Versuchen einen Stoff herzustellen, der mit Hämoglobin und mit nichts anderem reagiert – laut dem triumphierenden Holmes die wichtigste rechtsmedizinische Entdeckung seit langem. Watson ist zu Beginn der legendären Freundschaft erstaunt  über das große Wissen seines künftigen Mitbewohners. Gleichzeitig ist er verblüfft, um nicht zu sagen schockiert, über die vielen ganz elementaren Wissenslücken bei den selbstverständlichen Dingen; was auf der Hand liegt, ist der enzyklopädische Ballast des Universalgenies. »Seine Ignoranz war so bemerkenswert wie sein Wissen«, notiert er in A Study in Scarlet. Unter anderem bemerkt Watson mit Erschrecken, dass Holmes nie von Kopernikus gehört hat und folglich keine Ahnung hat, dass die Erde um die Sonne kreist.

»But the solar system« I protested. »What the deuce is it to me?« he interrupted impatiently: »you say that we go round the sun. If we went round the moon it would not make a pennyworth of difference to me or to my work.«

Das ist umso bemerkenswerter, da Sherlock Holmes ja der Realist schlechthin ist, die Inkarnation des wissenschaftlichen Menschen, Fleisch und Blut des Rationalismus sozusagen. Gleichwohl sieht er über einige der grundlegenden Stücke der Allgemeinbildung einfach hinweg, ja, er lässt diese in manchen Fällen sogar von unhinterfragten Missverständnissen überdeckt und das, weil er so lange kein Bedürnis danach hatte, es anders zu betrachten. Während er alles, was in seinen Wirkungsbereich fällt mit knallhartem Wahrheitsanspruch bearbeitet, scheißt er auf das, was darüberhinausgeht. Der Sherlockholmsche Wahrheitsbegriff ist mit anderen Worten ausschließlich pragmatisch definiert. Die Wahrheit, das sind die Erkenntnisse über die Wirklichkeit, die du benötigst, um ein Ziel bei der Arbeit zu erreichen, in welche du dich gestürzt hast. Oder im übertragenen Sinn: das Leben, für das du dich entschieden hast oder zu dem du gezwungen bist. Alles andere kann dir egal sein. Anders ausgedrückt: Die Erde ist eine Scheibe. Bis zu dem Tag, an dem du dir etwas vornimmst, das Wissen darüber voraussetzt, dass es nicht so ist.

6

Wahrheit ist eine ökonomische Frage. Und Lügen sind wie Schulden: Je mehr davon da sind, desto weniger Interesse haben Leute daran, auf sie aufmerksam zu machen. Oder: Geliehenes Geld ist verdientes Geld, wie ein bekannter norwegischer Geschäftsmann schon zitiert wurde. Aufgrund eines unbezahlten Bußgeldes wegen Falschparkens über 350 Kronen wurde mein Hausrat einmal geschätzt; eine Forderung, die ich zu begleichen unterließ, indem ich eine endlose Korrespondenz mit der Verkehrsbehörde begann, in welcher ich dem einfachen Prinzip folgte, jeder neuen und im Ton verschärften Inkasso-Drohung mit einem neuen, noch schöner formulierten Brief zu antworten. Ja, ich brachte meine ganze Wortkunst auf (in einem der letzten Briefe zitierte ich William Blakes Proverbs of Hell), allein aus dem Gedanken heraus, dass sie, solange ihnen ein unbeantworteter Einspruch immer wieder aufs Neue vorliegt, die Angelegenheit nicht als abgeschlossen verbuchen und die Schulden einkassieren können, was etwas mehr als drei Jahre funktionierte, aber auch nicht länger.
Übrigens ein fantastisches Wort: Hausrat. Ich wusste nicht, dass ich so etwas hatte, bevor sie kamen, um ihn mir zu nehmen. Hausrat. Ich habe einen Hausrat. Was ist mein Hausrat? Das muss wohl das sein, was in meinem Haus ist. Ich wohne in etwas, ich wohne in dem, was mein Hausrat ist, und das wollen sie mir jetzt bis zu einem Wert von 350 Kronen – in der Zwischenzeit war der Wert wegen aufgelaufener Gebühren und Strafsteuern auf  2000 Kronen angewachsen – nehmen. Mit anderen Worten, mein Hausrat steigt im Wert, je länger ich mich weigere, das Bußgeld zu bezahlen. Ich dachte: Wenn ich lange genug warte, werde ich vielleicht reich?
Seither erlebte ich auch, wie das Finanzamt Verspätungsgebühren auf eine zu spät bezahlte Steuernachzahlung von mir einforderte, die geringer war als die Gebühr, die meine Schuld begleichen sollte; das war im selben Jahr als der norwegische Investor Thomas Øye, der zu der Zeit mit neuen Geschäften in Dubai befasst war, über seine Anwälte in Norwegen einem Vergleich mit seinen Gläubigern zustimmte, in dem sich diese mit 1,8 Mio. Kronen statt der rund 100 Mio., die Øye ihnen schuldete, zufrieden gaben. Die Moral von der Geschichte: Leih dir genug, schwindle dreist genug, setz ausreichend viel aufs Spiel, dann interessiert es nicht länger, ob du die Verantwortung für das alles übernimmst, denn jeder kleinste Gewinn ist besser, als alles zu verlieren, und ein wenig ist immer noch mehr als gar nichts.
Das Gesetz zeigt hier seine Qualität als Straßensperre: Alle kleinen Fahrzeuge werden angehalten, die schweren Wagen aber preschen einfach hindurch.
Das sind die wahrhaftigen Proportionen der Lüge. Wir leben nicht so sehr danach, was richtig und falsch ist, sondern danach, was sich zu einer bestimmten Zeit für uns lohnt. Mach, dass es sich für viele nicht lohnt die Lüge aufzudecken, und die Welt hält die Fresse.

8

Der Mythos vom Golem ist die frankensteinartige Erzählung der Juden von neuem Leben, das aus toter Materie geschaffen wird, in dem der Golem ein Mensch ist – oder ein Monster, aus Lehm gemacht –, der durch mit Hilfe Gottes durchgeführte magische Rituale lebendig und von einem damit betrauten Rabbi verstanden wird. (Die Tradition erachtet es als Zeichen von Weisheit und Heiligkeit, Macht über einen Golem zu besitzen, und im Mittelalter gibt es viele Beispiele von solchen Lehmmonstern, die mit berühmten Rabbinern in Verbindung gebracht werden.)
Es gibt diesen Mythos in vielen verschiedenen Versionen, wovon die bekannteste von dem Golem erzählt, der – so heißt es – von Rabbi Judah Loew ben Bezalel in Prag 1580 geschaffen worden war, um die Einwohner im jüdischen Viertel gegen antisemitische Angriffe zu schützen (was Gustav Meyrink als Grundlage für seinen berühmten Roman von 1915 diente), und in mehreren Versionen gibt es eine bestimmte Formel oder ein Wort, das Monster am Leben hält, sei es auf den Körper geschrieben oder als Zettel im Mund.
In einer Version ritzt der Rabbi das Wort EMET auf die Stirn des Golems. EMET ist das hebräische wort für Wahrheit. Also ist die Wahrheit das, was den Golem am Leben erhält. Wenn der Rabbi will, dass dessen Leben endet, entfernt er einfach den ersten Buchstaben, sodass nur noch MET da steht, was auf hebräisch tot bedeutet.
In dieser einfachen, aber fatalen Geste – das Wegwischen des E – kann man, wenn man will, eine grausame Pointe sehen. Denn vielleicht ist es so, dass uns das Ergebnis unserer Jagd nach Wahrheit allzu oft zum Tod der Wahrheit führt. Und dass wir vielleicht größere Chancen hätten sie zu finden, wenn wir stattdessen nach etwas anderem suchen würden.
Suche und du wirst nicht finden, heißt es. Eines der biblischen Merkmale der Werke des Teufels ist, dass sie eine Vermischung aus Lüge und Wahrheit sind, also dass der Teufel nicht notwendigerweise lügt, aber dass er lügt und über andere Wahres spricht, so dass das eine nicht zu trennen ist vom anderen. Meine Theorie darüber – falls es denn stimmt, dass es so ist – lautet, dass im Handeln des Teufels kein zynischer Wirkstoff steckt, sondern dass er, im Gegensatz zu Gott, ein Realist ist; das bedeutet, dass er die Welt und den Menschen so sieht, wie sie sind, und nicht so, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Dadurch dass Gott, der Ideologe, noch immer auf einer idealen Welt besteht, einer ideellen Schöpfung, hat der Teufel, der Realist, oder vielmehr der Naturalist, wie ihn Perrault nannte, schon lange die Doppeldeutigkeit aller Dinge, deren Zusammengesetztheit, Unreinheit und Mangel eingesehen.
So gesehen macht der Teufel genau das, was ein Schriftsteller macht: Er mischt die Wirklichkeit und die Fiktion auf solche Weise, dass man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden kann, um sich so, durch das Werk, einem präziseren Verständnis von – nein, nicht Wahrheit – von Wirklichkeit zu nähern.

9

Die extremste Form der Wahrheitssuche ist die Folter. Wenn wir von den Fällen absehen, in denen sie als reine Bestrafungsmaßnahme angewandt wurde, ist Folter ein Werkzeug mit klar definiertem Ziel, nämlich um Informationen aus Menschen herauszupressen, oder anders ausgedrückt: sie zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Folter, lange genug angewandt, die Opfer dazu bringt, alles mögliche zu gestehen, nur um weiteren Schmerzen zu entgehen. Es ist das fantastische Paradoxon der Folter, dass das, was eine Methode sein soll, die es Menschen unmöglich macht unwahr zu sprechen, in ihrer äußersten Konsequenz die Lüge als einzige Rettung bereithält.
Wenn ein Mensch glaubt, er kenne die Wahrheit oder sei im Begriff sie zu finden –, dann ist er am gefährlichsten. Und das ist der ultimative Triumph der Folter und ihre gleichzeitige Niederlage, da das Opfer dadurch bis zum äußersten Punkt gebracht wird, dorthin, wo er oder sie dem Peiniger alle möglichen Lügen erzählt, im Augenblick, bevor er oder sie den furchtbaren Schmerzen nachgibt und stirbt. Der Golem-Mythos erinnert uns daran, dass es lediglich ein einfacher Buchstabe ist, der die Wahrheit vom Tod trennt. Such die Wahrheit, und die Wahrheit stirbt. Such die Wahrheit noch stärker, such sie mit allen Mitteln, und der Mensch stirbt.

Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler

Call For Papers

»Gespenster« – In unserer nächsten Ausgabe wollen wir uns der reinen Ratio verweigern und das Fantastische und Irrationale zwischen die schmalen Heftseiten bannen. Uns interessiert, wer oder was durch die Texte von jetzt geistert. Dabei sind wir auch auf der Suche nach literarischen Widergängern oder den Untoten der Popkultur, nach den Gespenstern der Vergangenheit. Wo ist zwischen den Zeilen der globalen Autobiographie und dem allgegenwärtigen Superrealismus in der heutigen Literatur der Platz für das, was nicht der Fall ist, es aber sein könnte?

Wir suchen: Prosa, Lyrik, Essays, Manifeste; Texte und Antworten aller Art, die mit einem Bein in der Welt und dem anderen über dem Abgrund des Irrationalen stehen. Einsendeschluss ist der zweite Advent: redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Trip ins Otherland


Science-Fiction in Kreuzberg. Jakob Schmidt vom Berliner Buchladen Otherland im Gespräch mit den metamorphosen über lesenswerte Neuerscheinungen, umstrittene AutorInnen, die »Culture Wars« und Vorurteile gegenüber der Science-Fiction-Literatur.

Ein Interview – und ein Vorgeschmack auf die metamorphosen Nr. 15.

von Luzia Niedermeier

Kreuzberg. Otherland. Der gut sortierte Buchladen bietet eine große Auswahl an deutsch- und englischsprachiger Science-Fiction- Horror- und Fantasyliteratur für Neulinge und Eingefleischte. Die drei Besitzer Wolfgang Tress, Simon Weinert und Jakob Schmidt lesen selbst mit Begeisterung Science-Fiction. Das lassen schon die Veranstaltungen vermuten, die sie regelmäßig organisieren. Immer wieder finden im Otherland Lesungen statt, bei denen AutorInnen ihre aktuellen Bücher vorstellen. Einmal im Monat lädt das Otherland zum »Gatherland«, bei dem gemeinsam über die jüngsten Leseerlebnisse geplaudert wird. Seit Sommer 2016 gibt es außerdem den »Otherland Speculative Fiction Book Club«, in dem ebenfalls einmal im Monat eine englischsprachige Neuerscheinung besprochen wird. Doch auch wer sich nicht sofort in die Runde des »Book Clubs« traut, sollte dem Laden einen Besuch abstatten: Dank der ausführlichen Beratung durch die MitarbeiterInnen brauchen Neugierige, die sich bis jetzt noch nicht mit Science-Fiction beschäftigt haben, ob der großen Auswahl keine Angst zu haben, zwischen Cyborg- und Universe-Covern verloren zu gehen.

metamorphosen: Innerhalb der Science-Fiction-Literatur gibt es ja die unterschiedlichsten Subgenres. Ich habe mal einige recherchiert: Transrealism, Weird West, Cyberpunk oder Space Opera waren Begriffe, die mir begegnet sind. Sind diese Subgenres wirklich geläufig bzw. gibt es unter den SF-Lesern leidenschaftliche Fans der Subgenres? Was wird am meisten gelesen?

Otherland: Die beiden geläufigen Genres neben Space Opera – also die Sorte SF, in der es in der Regel um Raumschiffe geht, die von Planet zu Planet fliegen und in der gerne mal das Schicksal des Universums auf dem Spiel steht – sind Cyberpunk und Steampunk. Cyberpunk ist immer noch ein ganz populärer Begriff: dahinter verbirgt sich eine ambivalente Verbindung von »High Tech« und »Low Life«. Kaputte, oft rebellische Antihelden, die unter der Herrschaft der Megakonzerne leben. Die beispielsweise aus dem Film Blade Runner vertraute Noir-Ästhetik, die da dran hängt, ist inzwischen in der ganzen Science-Fiction-Literatur verbreitet. Dieses Subgenre wird immer wieder ironisiert, gebrochen, kommt als Revival zurück und und und. Es ist wirklich wahnsinnig erfolgreich. Im Steampunk hingegen ist eher der nostalgische Bezug auf das 19. Jahrhundert präsent, der dann allerdings durch verrückte Technologie und barock-überdrehte Ästhetik aufgemotzt wird. Ich glaube, das ist tatsächlich mehr eine Sache der visuellen Ästhetik als ein klarer Genrebegriff. Es gibt ja auch Steampunk-Conventions, bei denen es in erster Linie um Verkleidungen und das Basteln von absurden Maschinen geht; da wird ein fiktives 19. Jahrhundert nicht nur im Kopf erschaffen.

metamorphosen: In einem SF-Onlineforum bin ich auf einen Post gestoßen, der sich mit Vorurteilen gegenüber der Science-Fiction beschäftigt. Die Autorin des Threads fragte sich, woran es liege, dass »von Literaturfans oft sogar verächtlich« abgewunken werde, wenn es um Science-Fiction geht. Hast du diese Erfahrung auch gemacht? Bleiben SF-Fans meist unter sich, oder gibt es mittlerweile mehr Interesse von LeserInnen anderer Genres?

Otherland: Es wird ein bisschen offener, auch dadurch, dass momentan sehr viel Science-Fiction in den Mainstream einzieht, z.B. durch Fantasy-Serien wie Game of Thrones. Gerade erst ist wieder eine sehr erfolgreiche SF-Romanreihe als Fernsehserie verfilmt worden: The Expanse. So was richtet sich ja nicht nur an ein SF-Lesepublikum, sondern an eins, das einfach gerne komplexe und aufwändig produzierte Fernsehserien sieht. Was allerdings den Buchmarkt betrifft, ist die Trennlinie immer noch ziemlich scharf gezogen, zumindest in Deutschland – auch von der Gestaltung der Bücher her. In letzter Zeit ist allerdings eine gewisse Aufweichung der Grenzen feststellbar: Da gibt es die Veröffentlichungen von deutschen Autoren, beispielsweise von Georg Klein (Die Zukunft des Mars), die in Deutschland als Literaturautoren anerkannt sind, die aber auch ganz viel Science-Fiction gelesen haben und dadurch beeinflusst wurden. Die könnten in den USA genauso gut in einer SF-Reihe erscheinen, das wäre da völlig angemessen.

metamorphosen: Und was genau soll diese Unterteilung zwischen Science Fiction und »Literatur« rechtfertigen?

Otherland: Das Vorurteil ist diffus. Es wird angenommen, dass es einen Begriff von literarischer Hochwertigkeit gibt und man geht davon aus, dass Science-Fiction diese Hochwertigkeit nicht erfüllt. Und andersherum: wenn ein Science-Fiction-Werk die Kriterien der Hochwertigkeit offiziell erfüllt, dann ist es keine Science-Fiction mehr. Das ist natürlich ein Zirkelschluss. Dabei ist es ja eigentlich viel interessanter, welche Motive auftauchen. Wenn ich jetzt etwas lesen will, was sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt, ist das Buch dann Science-Fiction oder »Literatur«: Was soll’s, es geht ja um bestimmte Themen und Zugänge. Und wenn man bei allem, wo Science-Fiction draufsteht, von vornherein annimmt, das sei irgendwie anspruchsloser Blödsinn, dann entgeht einem natürlich wahnsinnig viel. Aber andererseits: Man kann eh nicht alles lesen, was interessant ist. Wenn Leute da Berührungsängste haben, muss ich sie ihnen auch nicht zwanghaft ausreden. Die finden immer noch genug Gutes zu lesen.

metamorphosen: »Intern« setzt sich die Science-Fiction-Leserschaft mit solchen Vorurteilen auseinander, auch mit dem, dass Männer bessere SF schreiben sollen. Tatsächlich gibt es hier mehr Autoren als Autorinnen. Weil sie es wirklich besser können? Oder ist das ein Vorurteil, das gerade im Wandel begriffen ist?


Otherland: Ich glaube schon, dass das im Wandel ist. Es gab aber schon immer auch Autorinnen. Mary Shelley hat Frankenstein geschrieben, das wird von ganz vielen als einer der Ur-Science-Fiction-Romane angesehen. Klar, ich vermute mal, die überwiegende Mehrheit der Science-Fiction-Autoren bestand immer aus Männern. Es gibt allerdings schon eine starke Zunahme von präsenten Autorinnen in den letzten zehn Jahren. Ich habe keine genauen Zahlen vor Augen, aber dass in letzter Zeit viele Autorinnen für Preise nominiert werden und Preise gewinnen, spricht dafür, dass Vorurteile gegen Science-Fiction-Autorinnen langsam verschwinden. Ich erlebe zwar immer wieder männliche Leser, die ein Buch von einer Frau lieber nicht kaufen, weil sie sagen, wie Frauen schreiben, da kann ich mich nicht reindenken … das ist aber schon eher selten. Ich denke, dass sich da vor allem in den USA viel getan hat.

metamorphosen: Inwiefern?

Otherland: Es gibt in den letzten Jahren in Nordamerika so ein Phänomen, das man im Allgemeinen als die »Culture Wars« bezeichnet. Also der Kampf zwischen der sogenannten »Political Correctness« und den Leuten, die sich als die inszenieren, die das sagen, »was das Volk eigentlich denkt«, als die ganz »Normalen«, die gegen all die nervenden Frauen, Queere und Nicht-Weiße sind. Diese »Culture Wars« sind auch in der SF stark ausgebrochen. Da gibt es z.B. ein großes Gerangel um den wichtigsten Science-Fiction-Preis. Es hat sich im Prinzip eine rechte Kulturbewegung gegründet, die sagt, sie wolle diesen Preis »zurückgewinnen«, weil er gerade nur noch an Frauen und People of Color vergeben werde, die irgendwelche Spezialthemen behandeln und irgendwelchen Genderkram verbreiten würden und die irgendwie schwul und pervers und komisch sind – und die dürften ja auch irgendwie schreiben, aber die sollten bitte unter sich bleiben und die großen Preise sollten doch nicht für Spezialthemen vergeben werden, sondern für richtige, normale Science-Fiction, wie man sie kennt und liebt. Es gibt da diese »Norm«: weiße Männer schreiben Science-Fiction über weiße Männer und alles andere sind Sonderthemen. Und ich glaube, das löst sich gerade ganz stark auf. Und dagegen gibt es eben diese starke Abwehrreaktion.

metamorphosen: Neben dieser großen Debatte: Gibt es weitere Streitpunkte unter Science-Fiction-LeserInnen?

Otherland: Der große Streitpunkt spaltet vielleicht nicht die Gemeinde, aber zieht wahnsinnig viele Trennlinien: die Frage, was ist Science-Fiction? Star Wars ist da immer das beliebteste Beispiel, wo sich dann die Fans streiten, ob das Science Fiction oder Fantasy mit SF-Ästhetik ist. Manche definieren Science-Fiction über die Wissenschaftlichkeit, es muss irgendwie vorstellbar und plausibel sein, keine pure Spekulation. Andere sagen, Science-Fiction bezeichnet eine bestimmte Ästhetik, es geht nicht darum, ob es wissenschaftlich ist. Da gibt es viel Streit und Abgrenzungskämpfe. Da sind wir auch schon wieder zum Teil bei den »Culture Wars«. Da sagen einige, das ist doch gar keine Science-Fiction, das ist Message-Fiction, die wollen uns eine Botschaft andrehen.

metamorphosen: … das sind wahrscheinlich eher die LeserInnen, die bei Science-Fiction mehr auf Spannung und Action achten.

Otherland: Vielleicht auch die, die leugnen, dass in ihren Büchern auch eine Botschaft drin steckt, die aber einfach nur die Geläufigere ist.

metamorphosen: Gibt es eine/n Science-Fiction-AutorIn, den/die alle kritisieren, den/die aber trotzdem alle lesen?

Otherland: Wer dem eigentlich am nächsten kommt ist H.P. Lovecraft. Der hat in den zwanziger Jahren Horrorliteratur mit starker Tendenz zur Science-Fiction geschrieben. Ein sehr einflussreicher Autor, der stark auf Stilebene und auf inhaltlicher Ebene kritisiert wird, aber auch auf einen hohen Sockel gestellt und wissenschaftlich rezipiert wird. Der wird nach wie vor extrem viel gelesen, oft aber mit relativ großer Distanz: Die einen sagen z.B., der konnte eigentlich nicht schreiben. Die anderen sagen, der war brillant, ihr habt’s nur nicht verstanden. Er ist jemand, der literarisch ganz umstritten ist und dem sich kaum jemand aus Science-Fiction-Kreisen so ganz entziehen kann.

metamorphosen: Was ist dein absolutes Science-Fiction-Lieblingsbuch und warum würdest du es weiterempfehlen?



Otherland: Das ist eine Frage, die ich schwer beantworten kann. Das wechselt auch jedes Jahr. Aber ein Buch, das immer wiederkehrt ist Samuel R. Delanys Dhalgren. Ein sehr, sehr sonderbares, fast apokalyptisches Buch über einen jungen Mann, der in eine Stadt kommt, die auf eine seltsame Art einen Untergang erlebt hat, in der aber immer noch Kleinfamilien leben und den Anschein von Normalität aufrecht erhalten. Es ist ein Buch, in dem der Autor Fragen von Sexualität und Rassismus nachgeht. Delany ist einer der großen afroamerikanischen Science-Fiction-Autoren, der inhaltlich und stilistisch immer ziemlich wildes Zeug gemacht hat. Es ist ein Buch, das einen unheimlichen Sog auf mich ausübt. Es baut eine starke Atmosphäre auf, gleitet manchmal ins Essayistische ab – es ist also nichts, was ich empfehlen würde, wenn man einfach so mal etwas lesen will. Aber wenn man Lust hat, sich auf etwas Eigenwilliges einzulassen, dann ist das ein Wahnsinnsbuch, das einen – zumindest, wenn es einen im richtigen Moment erwischt – tief beeindrucken kann.

metamorphosen: Die spannendste Neuerscheinung in der Science-Fiction-Literatur dieses Jahr?

Otherland: Ich lese gar nicht so viel Aktuelles. Ich bin oft eher so ein Jahr hinterher. Ich würde jetzt eins von 2015 nennen, das aber 2016 auf Deutsch erscheint, vielleicht zählt das noch. Es ist von Kim Stanley Robinson, eigentlich schon ein Veteran der Science-Fiction-Literatur, der aber auch ein paar historische Romane geschrieben hat. Das Buch heißt Aurora, es geht um eine Expedition in ein anderes Sternensystem mit einem Generationenschiff, also ein ganz bekanntes Motiv. Robinson schreibt auf eine ruhige Art, die Texte sind dicht an Figuren Gleichzeitig ist er auch immer ziemlich wissenschaftlich, aber ich finde, dass er auch sehr abstrakte und komplexe Themen unglaublich gut auf einer menschlichen Ebene, über die Figuren, vermittelt. Speziell bei Aurora fand ich spannend, dass er das ganze Thema des Fortschritts-Optimismus untergräbt, ohne dabei dystopisch zu werden. Es gibt im SF-Bereich die Tendenz, dass entweder alle Probleme durch Technik überwunden werden oder aber, dass Technologie alles zerstört und uns Menschen kaputt macht, was dann oft in dystopischen, fast apokalyptischen Irrsinn abschliddert. Robinson schafft in dem Buch einen Balanceakt dazwischen: Ein gutes Leben kann mit Hilfe von Technologie bewerkstelligt werden –, aber die Erzählung driftet niemals in die Vorstellung von totaler »Machbarkeit« durch Technologie ab. Das Buch hat die Science-Fiction deshalb total auf den Kopf gestellt: Einige Leser waren wirklich sauer, dass die Grundidee der Science-Fiction völlig zerstört wird durch das, was er da macht. Ich fand aber, dass das Buch eben eine Doppelrolle vereint; also Liebe zum Genre und Kritik aus dem Genre heraus, eine Selbstkritik. Ein sehr interessantes Buch, weil es für die Science-Fiction unglaublich viel Diskussionspotenzial bietet.

Lyrics von Jetzt

Die freshen Verse der 80er-Jahre-Kinder liegen in den Archiven von VIVA und nicht bei Luxbooks

von Michael Watzka

Mit dem Band Lyrik von Jetzt erschien zuletzt 2003 eine richtig große Anthologie junger deutscher Gegenwartsdichtung. Darin vertretene Lyriker_innen wurden wenige Jahre vor oder nach 1975 geboren und waren also zum Anthologiezeitpunkt in ihren späten Zwanzigern oder frühen Dreißigern. Zwar sind die Endzwanziger auch nicht mehr die ganz jungen Stimmen; im Schnitt ist dieses Alter für eine Anthologie jedoch gar nicht ungewöhnlich. Die 1919 von Kurt Pinthus herausgegebene, epochemachende Sammlung Menschheitsdämmerung etwa versammelte im Mittel expressionistische Autoren der vier Jahrgänge vor und nach 1887. Scheinbar muss in der Lyrik (anders als im Sport) erst etwas Zeit vergehen, bis sich Talent zu einem eigenen Stil entwickeln und der sich setzen kann. Je jünger, je besser muss da nicht unbedingt stimmen. Hinzu kommt, dass Anthologien eben weniger den gegenwärtigen Moment erfassen, als im Nachhinein Texte der Hochphase einer Strömung abbilden, die zum Zeitpunkt des Erscheinens dann bereits vier oder fünf Jahre alt ist. Die Herausgabe von Texten in einer Anthologie ist immer schon ihre Archivierung.

Wo sind die Verse der Generation Modem?

Das mit ›groß‹ der Status von Lyrik von Jetzt nicht übertrieben ist, zeigen die Kreise, die die Sammlung bis in die Gegenwartsliteraturlandschaft zieht: Jan Wagner, Jahrgang 1971 und einer ihrer Herausgeber, erlebt seit dem Gewinn des Leipziger Buchpreises so etwas wie ein Lyrikwunder – und mit ihm die ganze Zunft. Wie schön. Nur wo bleibt die Anthologie der 2010er Jahre? Lyriker_innen von jetzt wären etwa gegen Ende der Achtziger Jahre geboren und gerade Mitte/Ende zwanzig. Wer macht gerade die Verse, die das Lebensgefühl einfangen, zu der Zeit aufgewachsen zu sein, als Schröder gerade, Kohl nicht mehr Bundeskanzler, Telefone schon nicht mehr schnurlos und die Songs in den Charts von Blink182 waren? Wo sind die Verse der Generation Modem?
Vor nicht allzu langer Zeit haben der Rapper Dendemann und der Satiriker Böhmermann im ZDF die Geschichte des deutschsprachigen Rap als Medley inszeniert. Vorbild waren – wie für den hiesigen Sprechgesang überhaupt – die Vereinigten Staaten: Justin Timberlake und der US-Talkmaster Jimmy Fallon legten vor einiger Zeit eine mehrteilige Videoserie zur Geschichte des Genres vor. Was beim Schauen beider Kompilationen auffällt: Der Rap ist längst nicht mehr Phänomen oder Subkultur, sondern ein eigenes Feld mit stattlicher Geschichte und internen Bezügen und gerade dabei, durch Leute wie Böhmermann oder Fallon (deren Zuschauer im Schnitt über 50 Jahre alt sind) knapp ein Vierteljahrhundert nach sein Anfängen in den Mainstream integriert zu werden.
Die Anfänge des US-Rap fallen mit Tupac Shakur und The Notorious BIG in die Mitte der 80er. Beide Rapper könnten dem Geburtsjahr nach also auch in Lyrik von Jetzt vertreten sein. Bis die Welle des Sprechgesangs über den Ozean geschwappt ist, hat es etwas gedauert. Die Anfänge hierzulande wirken aus heutiger Sicht noch sehr ›deutsch‹ und im Vergleich zur Attitüde des großen Bruders brav und bürgerlich (»ich muss dir jetzt erzählen, was mir widerfahren ist«, rappt Thomas D mit Stuttgarter Kehllaut über »die da« am Tresen, »sie hat auch allerhand«; »Na fein!«). Mögen manche der frühen Sachen von Fettes Brot und den Fantastischen Vier mitunter skurril anmuten; mit ihrer Pionierarbeit haben sie allem Nachfolgenden einen Bärendienst erwiesen und gezeigt: Sprechgesang geht auch auf deutsch.

Weg vom »Die Da!?!«-Charme der Neunziger

Nach Afrob und Ferris MC kam zur Jahrtausendwende der große Turn. Kinder türkischer, sudanesischer oder iranischer Einwanderer wie Eko Fresh, Kool Savas oder die Gruppe Aggro Berlin erfanden aus der Unterschicht heraus den eigentlichen Deutschrap. Vor allem das Deutsche als Rapsprache profitierte von diesen neuen Einflüssen; viel geschmeidiger hörte sich das »Isch sehe disch« an, lockerer, urbaner und weniger altbacken als die standardsprachlichen Auslautung. Weicher und weniger korrekt zu den Beats, passend zur Attitüde des Genres eben. Hinzu kamen die Street Credibility – die den vier braven Buben aus Schwaben und den Gymnasiasten von Fettes Brot schlicht abging – und der Inhalt. Der Rap war nun auch in Deutschland endlich dort angelangt, wo er in den USA entstanden war: in der Unterschicht, auf der Straße. Das hatte dann auch spürbare Effekte auf die Rapper mit deutschen Wurzeln der Folgejahre: Seeed um Peter Fox, Samy Deluxe und nicht zuletzt Dendemann sind vom »Die Da!?!«-Charme der Neunziger meilenweit entfernt.
Jene Einwandererkinder, die eigentlichen Erfinder des Deutschraps, sind alle um 1990 herum geboren. Genau die Generation also, an der es jetzt wäre, eine fette Anthologie mit Kostproben ihrer Auffassung vom Versemachen zu launchen. Das Problem ist nicht, dass es solche Verse nicht gäbe: Wer dem Rap-Künstler die gebundene Sprache als Fach streitig machen möchte, suche auf YouTube einfach nach Eminem. Das Problem ist, dass sie heute eher Lines heißen denn Verse. Es ist schick, als Herausgeber einer Gedichtsammlung auch Texte von Herbert Grönemeyer oder Judith Holofernes zu berücksichtigen oder für Bob Dylan den Nobelpreis zu fordern. Wenn überhaupt, dann ist der Liedermacher der legitime Nachfolger des Dichters. Vergleicht man aber den Deutschrap der Nullerjahre mit dem Großteil sogenannter junger Dichter aus Hildesheim oder Leipzig, wo momentan scheinbar die große Langeweile und Gegenwartsferne vorherrscht, atmen manche der Lines förmlich die Luft bundesrepublikanischer Gegenwart aus. Originell dagegen scheint es, als Bildungsbürger mit vor Ironie triefender Feder den deutschkurdischen Rapper Haftbefehl zum  »deutschen Dichter der Stunde« zu erklären (die ZEIT Nr. 49/14), nur um zwischen den Zeilen auf ein scheinbar unterkomplexes, mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigtes, oberflächliches und obendrein auch noch grammatikalisch inkorrektes Gesabbel mit Mikro abzustellen. Literatur, so geht das Argument, stellt nunmal Bezug her zu dem, was schon da ist, und reiht sich in Traditionen ein – und sei es durch die Geste der Ablehnung aller Traditionen.

Video bei VIVA statt Debüt bei Luxbooks

Was aber gibt es denn, zum Beispiel, das näher an der Kultur der Republik der Nullerjahre anliegt, als den König von Deutschland von Eko Fresh? Verortung im Jetzt, das geht so:

EKO wirft die Hits wie Dirk Nowitzki
Die Leute fragen: »Oh, jetzt wirst du rich wie.«
Nee, es geht bei dem was ich durch Hits verdien

alles drauf beim nächsten Gerichtstermin
Und ich will Bohlen um Millionen verklagen
Er hat mich nicht in seinem Buch gelobt, ohne zu fragen

Ich wär lieber niedlich, wie Jeanette Biedermann
und switche mein Image, und fang
Jetzt wieder an
Alles was ich bisher sagte, nehm’ ich zurück
Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück

Jeder Mensch ist Mensch, weil er kifft und weil er trinkt,
weil er Optik schiebt, weil er fickt und weil er stinkt.

Du hast kein Bock, schreib in einem Fax zu Schröder
Meine Fratze wär blöder, als die von Atze Schröder
Falls sie fragen, »Wer ist der Rapper überhaupt?«
Es ist E-K-O der Rapper überhaupt

Schröder, Bohlen, Biedermann und Nowitzki, Grönemeyer und die Helden. Das ist ein Panoptikum der deutschen Popkultur der Nullerjahre. Guten Tag, guten Tag, homie, weil der Mensch, ja der ist Mensch – was wenn nicht Traditionsbindung liegt hier vor? Hier verortet sich ein Texter im Feld von anderen Texte(r)n und steckt seinen Platz ab. Wer sich das Musikvideo dazu anschaut, sieht den Musikproduzenten Thomas Stein und Roberto Blanco Eko vom Rand einer Bowlingbahn aus umgarnen, im Anschluss folgen mit dem verkannten Genie und der Betriebskritik sogar die wohl literarischsten aller Gesten:

Mama guck ich hab es geschafft
Das hier hab ich die letzten Jahre gemacht
Mein Video ist fertig und VIVA spielt’s nicht
Wie kann das sein, ich dachte VIVA liebt mich

Man ersetze Video durch den Debütband und VIVA durch den Verlag der Wahl – und zack, hat man das alte Bild vom unveröffentlichten Poeten. Aber genau hier liegt halt das Problem: Weil Musik das Medium ist, nicht die Schrift, kommen solche Lines für die ›Literatur‹ nicht infrage. Nochmal: Diese Texte werden gehört, gerappt, erinnert, als Ohrwurm durch den Alltag getragen, aber nicht gelesen. Die Frage, ob das bei einem Schwellengenre wie der Lyrik, die zwischen Literatur und Musik schwebt, nicht ohnehin der Normalfall wäre, und bei der Schriftfixierung der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert nicht einfach ein Missverständnis vorliegt, darf man sich stellen.
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur würde sich einen großen Gefallen tun, als vollgültig anzuerkennen, was längst schon seine Spuren in der Kultur der Bundesrepublik hinterlassen hat. Woher wissen wir denn, dass wir Deutschen besonders gerne TV-Total gucken? Andere Kulturen, die kommen und die deutsche aus Not annehmen müssen, mit ihr aufwachsen, spiegeln nicht zuletzt die Merkwürdigkeiten und Besonderheiten der eigenen wieder. Und ihre Skurrilitäten. Was für eine bessere, stabilisierendere Selbstvergewisserung einer sogenannten Kultur oder Gesellschaft und ihrer Riten kann es denn geben als Menschen, die sie unter Umständen interessant genug finden, sie anzunehmen und dann in ihren Besonderheiten überzeichnen. Das zeigt doch erst, was ›uns‹ ausmacht. Und nicht acht Vorfahrengenerationen in Brunsbüttel. Aber andere Baustelle.

Ob Eko Fresh Jan Wagner kennt?

Sind Gedichtanthologien also überhaupt noch zeitgemäß und in der Lage, tatsächlich abzubilden, was in dem Genre, das sie bedienen sollen, vorgeht? Oder sprengen neue (alte) Formen des Lyrischen ganz einfach die Möglichkeiten der klassischen Anthologie – und damit unseren Lyrikbegriff? Dabei ist das Genre lebendig wie nie, allein: seine Messmechanismen und Endgeräte sind hoffnungslos veraltet. Deutschsprachige Gegenwartslyrik der 10er-Jahre und Rap existieren ohnehin parallel. Gut so. Nur: Warum können sie nicht auch in der Kritik gleichberechtigt nebeneinander bestehen? Es schmückt schon ungemein, auf einer Germanistenparty heute Tocotronic als möglicherweise stilbildend für die Lyrik kommender Generationen zu bezeichnen. Aber warum, bitte, inszeniert sich denn ein Rapper wie Samy Deluxe in seinem Musikvideo noch mit Federkiel und schwarzer Tinte – und wiederholt so die klassischen Symbole des armen Poeten der Romantik? Mach neu!, fordert Peter Fox und stilisiert sich so zur »Abrissbirne für die deutsche Seele.« Würde man nachsehen, wie oft der Begriff »Lyrics« täglich im Vergleich zur älteren Schwester »Lyrik« gegoogelt wird, wäre die Sachlage ohnehin klar, auch ohne den aktiven Rückbau der hiesigen Landeskultur. Zu fast jedem Song gibt es mittlerweile den Text online auf entsprechenden Plattformen. Wie viele Prozent der jungen Lyrik steht online?
Weg mit den Anthologien also! Oder, weniger maximal gefordert: Hört auf, gute Lyrik zu ignorieren. Dann leben wir vielleicht bald nicht mehr in dem Land, wo, wie Samy Deluxe textet, »der Soul keine Seele hat, der Rock nich’ rockt […] Und der Rap so ‘ne schlechte Reputation hat«, sondern machen aus der gefühlten Koexistenz von aufgeschriebener und aufgeführter Lyrik eine echte. Das, was abgelöst werden soll, weiß ohnehin meist, was sein Feind ist: Das Neue. Die, die ablösen sollen oder wollen, die Avantgarde, wissen nicht oder nur in den seltensten Fällen, dass sie das wollen. Sie tun es einfach. Weg mit dem alten Staub, und drauf los geschafft. Jan Wagner weiß wohl wer Eko Fresh ist. Ob Eko Fresh Jan Wagner kennt?

The Times They Are a-Changin’

von Audun Lindholm (Vagant)

Es geschieht nicht häufig, dass ich dazu verführt bin, die Dinge literatursoziologisch zu betrachten, aber in den letzten Stunden war es schwierig, genau das nicht zu tun. Durch ihre Wahl von Bob Dylan zum diesjährigen Träger des Literaturnobelpreises hat die Schwedische Akademie zwei neue Variablen in die globale Diskussion über Literatur eingeführt: die Subkultur und die Generationszugehörigkeit. Auf einer lokalen Ebene waren beide Variablen schon immer präsent, doch neigen sie zum Verschwinden, sobald Literatur über Landesgrenzen hinweg vermittelt wird. Alle lesenden Norweger, unabhängig von ihrem Alter, sind für Kjell Askildsen und Jon Fosse; alle lesenden Schweden, unabhängig davon, welcher Gang sie in ihrer Jugend angehörten (oder nicht angehörten), erkennen Tomas Tranströmer und Lars Norén an.

Mit Bob Dylan verhält es sich ein wenig anders: Denn er ist die Personifikation des Mentalitätsumbruchs, der Ende der 60er-Jahre durch die westliche Welt fegte und für eine Springflut von abweichenden Lebensentwürfen verantwortlich war, die bald in den Sammelbegriffen »Hippiebewegung« und »Jugendrevolte« summiert wurden. Das Selbstverständnis und die sozialen Bewegungen, die mit diesen Worten umschrieben wurden, provozierten wiederum selbst neue Selbstverständnisse und soziale Bewegungen – die Jugend der 80er, in ihren schwarzen Klamotten, definierte sich über die Negation ihrer idealistischen, batiktragenden Vorgänger: No future! Seither ging es immer so weiter, in immer schnellerem Tempo und nach kombinatorischen Systemen und dialektischen Mustern, die Aussenstehende nur schwer begreifen können. Alle, die mit musikalischen Subkulturen vertraut sind, wissen, dass die Grenzen zwischen den Gruppen streng bewacht werden und dass der Narzissmus der feinen Unterschiede dauernd neue – und in vielen Fällen produktive – Ausdrucksformen findet; ja, in einigen Fällen ist der Kampf um die Gruppenzugehörigkeit die eigentliche künstlerische Triebkraft (zumindest damit behalten die Kultursoziologen Recht).

In den vergangenen Jahren haben viele Musikjournalisten im Ölland Norwegen festgestellt, dass die Zuhörer eklektisch, allesfressend und tolerant geworden sind, dass sie sich in einem sich stetig erneuernden Spotify-Entdeckungsrausch das beste aus allen Genres herauspicken. Implizit machten die Journalisten damit deutlich, dass wir uns am Ende der Geschichte der sub- und gegenkulturellen Zugehörigkeit und dem entsprechenden Musikgeschmack befinden; heute aber wurde deutlich: Dem ist nicht so. Denn was sehe ich in meinem Feed? Leute haben Angst vor einer Invasion von gitarrespielenden Männern auf zukünftigen Parties, fragen sarkastisch, ob jetzt ein Rapper der nächste Preisträger sein wird, halten dem Gewinner seinen kommerziellen Erfolg vor, beklagen sich, dass die Welt im nächsten Jahr Männern in ihren 60ern mit Pferdeschwanz und bedruckten T-Shirts gehören wird – die coolsten Schweden erklären, dass sie kotzen müssen und fragen, wie der Friedensnobelpreis diese Bedeutungslosigkeit jemals toppen soll. Es ist beinahe so, als würde man fragen, ob der Bob-Dylan-Hörer des Jahres 2016 hip oder square ist, ob Freak oder straight.

Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler.

Der unwissende Lehrmeister

Zu Christian Krachts Roman Die Toten, dem Unterschied zwischen Meinungen und Haltungen und einer lernfähigen Literaturkritik

von Lukas Valtin

Anfang September 2016 ist etwas Bemerkenswertes geschehen. Es geschieht noch immer. Inmitten fliegender Fetzen gesellschaftlicher Kommunikation wagt eine kleine, elitäre Gruppe die stille Revolution. Was von dieser Runde des publizistischen Kommentars zu Christian Krachts neuem Roman Die Toten überdauern wird, ist diesmal nicht der polemische, der Goldenen Himbeere der Literaturkritik würdige »rsteher rechten Gedankenguts« (Diez 2012 zu Imperium etc.), sondern das Wort vom großen »Oszillieren« und dazu der sanfte Appell: »Bitte oszillieren Sie.« (Rabe, ddeutsche). Und dann lässt Kracht auch noch seinen Erzähler dieses Wort selbst benutzen: Eine der Hauptfiguren vernimmt, im magisch anmutenden Moment, bevor das Meer ihn verschluckt, »wie von fern, ein versunkenes Oszillieren, es ist das scheue, modulierte Fiepen der Meeressäugetiere, die sich über unendlich weite Strecken hinweg im Ozean zusingen.«

Womit wir mittendrin wären in einer der Diskussionen, die sich 2012 an Imperium und an Diez’ Kritik entzündet hat: Soll man nun und darf man nun Autor und Erzähler oder gar Figuren gleichstellen, Aussagen des einen auf den bzw. die anderen projizieren? Und was ist mit Aussagen, die der Text als solcher in irgendeiner Form zeitigt, darf man den Autor für diese in Haft nehmen? Das Spektrum der Antworten nicht die Antworten selbst! »oszillierte« dabei zwischen einem triumphierend-gehässigen »Natürlich!«, einem knöchern-schmallippigen »Niemals!« und einem inkonsequent-ratlosen »Naja-vielleicht-ja-doch-ein-bisschen«.

Beim Lesen des neuen Romans ertappt man sich nun bei der Frage: Angenommen man wüsste nicht, dass der Text, den man in den Händen hält, von Kracht stammt, wäre man dann von jedem einzelnen Satz gebannt, würde man jede Seite mit dem Ruf »Meisterwerk!« auf den Lippen umblättern? Vermutlich nur, wenn man debil genug ist, um dieses Wort überhaupt die ganze Zeit benutzen zu müssen. Denn, diese Erkenntnis folgt auf dem Fuß, das ist ganz einfach die falsche Frage und, noch dazu hypothetisch gestellt, Heuchelei. Man kann Krachts Autorpersona nicht mehr von seinem Werk und auch die vorherigen Bücher nicht vom neuen Roman trennen. Niemand weiß das besser als Kracht selbst. Alles andere wäre eine romantisierte Fetischisierung dessen, was »geschrieben steht« – und die ist auch in ganz anderen Bereichen menschlicher Kultur nicht besonders hilfreich, also warum sollte sie es hier sein? Die Lektüre von Die Toten ist von den Vorgängerromanen und der Debatte um sie, auch von den Zeitungs- und Fernsehinterviews, von Facebook-Posts und Fotografien eingefärbt. Man weiß, bevor man das Buch aufgeschlagen hat: Man liest hier Kracht, einen Teil des Gesamtkunstwerkes, das seinen Namen trägt. Und es liegt nunmal in unserer Natur, dass wir insgeheim wissen wollen, wie der Mann, der Kopf, hinter all dem tickt.

Eine Haltung ist verletzlicher als eine Meinung

Denn wir spüren in Kunstwerken einer Haltung (gegenüber der Welt, dem Leben, der Gesellschaft) nach und versuchen, eine solche zu finden, die wir für gut und richtig befinden, die uns beeindruckt oder die gar mit unserer eigenen resoniert. Letztendlich ist doch das der Grund, warum Menschen in ihrer Freizeit freiwillig zu erzählender Literatur greifen. Nur ist eine Haltung etwas ganz anderes, komplexeres und vor allem verletzlicheres als eine Meinung. Denn auch wenn Kracht mit seiner Kunst keine eindeutigen Meinungen über alles und jeden in die Welt hinausposaunt, sondern diese viel eher in sich selbst zusammenfallen lässt, galoppiert seine Literatur nicht einfach der Belustigung willen wie ein gedoptes Rennpferd um ein leeres Zentrum herum. Es geht ihr darum, eine gewisse Haltung auszuloten und ihr einen Raum in der Welt zu geben.

Weshalb hier auch noch mit keinem Wort die Rede war von der eigentlichen Handlung des Romans, denn die ist Verzeihung zweitrangig, lediglich eine Variable auf der Suche nach einer ästhetischen Haltung (und, wenn nicht im Roman selbst, bereits in zahllosen Rezensionen nachzulesen). Auch die Figuren besetzen eher bestimmte Positionen in einer großen Versuchsanordnung als dass sie tatsächlich konkret sich selbst repräsentieren würden, sind Namen und Charakteristika auch beinahe sämtlich der Realität entnommen.

Was die Erzählerstimme angeht, knüpft Die Toten an Imperium an – was schön ist, denn sie war die eigentliche Hauptfigur des letzten Romans und ihr Potential, letztlich erhellende Irritationen auszulösen, noch lange nicht ausgeschöpft. Also wieder die manierierte, mit einer Menge kulturellem Selbstbewusstsein aufgeladene Thomas-Mann-Persiflage, durchmischt allerdings mit Nabokov und vielleicht Kästner sowie einem Hang zu comichaftem Slapstick und groteskem Humor. Das ganze entgleist regelmäßig, schlägt über die Stränge oder greift arg daneben und ist insgesamt, vor allem im immer wieder überraschenden Wechsel und Überschneiden dem »Oszillieren« – dieser verschiedenen Register, ganz einfach sehr unterhaltsam. Das flutscht.

Und das ist wichtig. Denn nicht umsonst spielt auch in diesem Roman wieder das Medium Film eine große Rolle. In Imperium drohte der Film dem Roman seine Geschichte streitig zu machen eine narrative Volte zu Ende ließ die Frage aufkommen, was denn das ursprüngliche Medium sei, in dem die Geschichte erzählt werde und welche mit ihr verbundene Ästhetik denn nun dominiere: Sprache oder Film?

Hommage an den Film – Kampf gegen den Film

Die Toten ist nun zwar eine Hommage an den Film, es ist aber auch ein weiterer Akt der Sabotage im Widerstand gegen die Übermacht des Mediums Film und die Deutungshoheit der Bilder. Das ist keine Literatur aus Verlegenheit, auch wenn Kracht im obligatorischen Interview mit Denis Scheck kokettiert, er könne eben einfach keine Filme machen, nur deshalb schreibe er. Nicht umsonst wird hier vor allem dem Stummfilm gehuldigt. Vielleicht hatten wir alle Filmemacher, Schreibende, Lesende, Sehende, und sogar Radiomacher und ihre Zuhörer – mehr vom jeweiligen Medium, als es noch nicht zusammen mit den anderen in einem einzigen, dem Tonfilm, zusammengefasst und die künstlerische Aussagekraft von diesem monopolisiert und normiert war. Und vielleicht meint Kracht das damit, wenn er im Interview in der ZEIT sagt, er sei ein großer Nostalgiker. Weil geht so der Gedanke? im erzwungenen und eigenständigen imaginativen Ergänzen der fehlenden Dimensionen des reinen Textes, des reinen Bildes, des reinen Tones dasjenige Erhabene, diejenige Transzendenz zu finden ist, die uns heute abhanden gekommen ist? (Dieses Schlagwort leihen wir uns aus besagtem Vorabinterview mit Ijoma Mangold, der nunmal einer der wenigen Feuilletonisten zu sein scheint, die das Zwingende in Krachts Werk erspüren und in Worte fassen können, weshalb die etwas nepotistische Umgehung der Sperrfrist, über die sich natürlich ereifert wurdewen interessiert’s.)

Versucht man, eine solche Transzendenzerfahrung heute auf diesem Wege zu erleben, muss man sich in die Nische begeben an die 100 Jahre alte Stummfilme schauen, Lyrik lesen, Bach hören und entkommt gerade deshalb der übergroßen Leitkultur, der des farbigen Tonfilms, nicht einen Zentimeter. In dieser ist ein Stumm-, selbst ein Schwarz-Weiß-Film eben eine Kuriosität, eine Anomalie, finden die meisten Lyrik anstrengend und nichtssagend, außer sie evoziert interessante Bilder, und wurde die Aria der Goldberg-Variationen in unzähligen Filmen als Hintergrundmusik missbraucht. Manche Schriftsteller ignorieren das einfach und verschwinden auf ewig in besagter Nische. Oder sie passen sich, meist wohl unbewusst, an, inklusive der unkontrollierbaren, multimedialen Inszenierung der eigenen Person. Filmisch Schreibenwie stark seit dem Siegeszug des Filmes der Einfluss filmischer Ästhetik auf die Literatur ist, das überhaupt zu erfassen, ist uns wahrscheinlich unmöglich.

Und Kracht? Versucht, den Mittelweg zu finden und sich auf diesem, der nur ein schmaler Grat ist, zu halten. Er ist weder bereit, in der Versenkung zu verschwinden, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und mantraartig auf den heiligen Wahrheitsgehalt von unter großen Entbehrungen abgerungenem Schwarz auf Weiß zu pochen, den sich der Leser bitteschön unter nur geringfügig geringeren Anstrengungen, in Askese gewissermaßen, erarbeiten muss. Noch ist er bereit, sich von diesem Leitmedium Film diktieren zu lassen, wie ein guter Roman geschrieben zu sein hat. Und trotzdem weiß er: Um überhaupt außerhalb der Nische wahrgenommen zu werden d.h., ja, breitenwirksame, populäre Literatur zu schreiben , muss man gegenüber der Macht dieses Leitmediums Zugeständnisse machen; auch seinen Vermarktungsstrategien. Und ganz nebenbei kann das ja auch ein großer Spaß sein, wenn man sich ebendas zum Kopieren herauspickt, was dieses Leitmedium so unschlagbar gut kann: fesseln, unterhalten, süchtig machen.

Steht dieses Gerüst, kann die eigentliche Arbeit beginnen: Der Literatur abringen, mehr als ein defizitärer Abklatsch eines unterhaltsamen Filmes zu sein. In diese unvermeidlichen, harten Schalen aus Popkultur einen Kern hineinpflanzen von etwas, das wieder über sich selbst hinausweisen kann; vielleicht, ja, nach oben, zu einem höheren Ganzen, das uns womöglich nur abhanden gekommen aber trotzdem, schaut oder besser liest man auf die richtige Art und Weise hin, noch zu finden ist. Dass diese Sehnsucht natürlich leicht kippen, auf dem Weg zu ihrer Erfüllung grausame Wege eingeschlagen, vermeintliche Transzendenz künstlich hergestellt und erzwungen werden können das erzählt dieser Roman immer gleich mit, er kann nicht anders, und nur alles andere wäre wahrlich verwerflich. Und trotzdem, sagt er, soll man die Suche nicht aufgeben.

Innehalten, Oszillieren

Wo und ob überhaupt dieses Transzendente in Krachts neuem Roman tatsächlich zu finden ist, wird jeder selbst herausfinden müssen. Hier nur ein Vorschlag: Ein hochgradig nervöser, alternder Regisseur, der von einer faschistischen Macht überredet wird, für viel Geld nach Japan zu reisen und einen Gruselfilm zu drehen, letztendlich jedoch seine eigene Freundin durch ein Loch in der Wand dabei filmt, wie sie ihn mit einem Ministerialbeamten dieser anderen faschistischen Macht betrügt, daraufhin seinen eigentlichen Auftrag verwirft, die Kamera stattdessen durch dieses fremde Land trägt, Eindrücke von Bäuerinnen und Bambusfeldern einfängt, so weit in die Natur eintaucht, dass ihm eine »Fuchsfamilie mehrere Tage lang in sicherem Abstand« folgt, anschließend durch Zufall dort im fernen Osten auf eine »Kammer der Erinnerung« stößt, in der repräsentative europäische Kulturgüter museal nebeneinander ausgestellt sind, die er mit »langsamer, ruhiger Hand« abfilmt, auf diese Art und Weise schließlich doch einen Film dreht, aber einen völlig anderen, als den ursprünglich geplanten Schema-F-Streifen, schließlich allein, aber mit einem Film, auf den er stolz ist, und zudem innerlich ausgesöhnt in seine Heimat zurückkehrt das ist natürlich großer, ironisierter Kitsch. Aber gerade weil dieser Kitsch zwar gebrochen dargestellt, die Möglichkeit der Wahrhaftigkeit seiner Inhalte aber trotzdem nicht aufgegeben wird, zerreißt es einem doch auch das Herz.

Beim französischen Philosophen Jacques Rancière gibt es die Figur des unwissenden Lehrmeisters: Er hat keine Antworten und kein Programm, aber er befähigt seine Zöglinge dazu, diese selbst zu finden, jeder für sich. Vergleicht man die hitzige Debatte um Imperium mit dem Gros der Beiträge zu Die Toten, bekommt man fast den Eindruck, gerade Christian Kracht könnte diesen Titel nun, auf verschlungenen Pfaden, verdient haben. Die Polemiker, die sich noch vor vier Jahren eine erbitterte Schlacht um die Deutungshoheit der vermeintlich kontroversen Inhalte lieferten, halten inne, betrachten das große Bild und reden von Transzendenz und Oszillieren. Dass diese Entwicklung sich diametral zu jener der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation vollzieht, kann dabei nun Verschiedenes bedeuten. Aber belassen wir es hier zunächst einmal bei einem: Gut so!

 

Call For Papers

Science-Fiction. Chronisch unterschätzt, oft nur belächelt. Und heute? Irgendwie Trend – oder eher: bitter nötig? Ist Sci-Fi das Mittel, um angesichts globaler Untergangsstimmung zumindest literarisch eine Zukunft in der Parallelwelt zu entwerfen – bzw. kann Literatur das überhaupt noch? Zukunft, Gesellschaft, Technik, Virtualität und vielleicht sogar die Utopie zu vereinen – ohne dabei peinlich oder zum bloßen Genre zu geraten?

Wir suchen Antworten in Textform zum Thema Sci-Fi. Schickt sie uns bis zum 01.09.2016 an redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Zum Tod von Wolfgang Welt

Wir sind traurig. Wolfgang Welt ist gestorben. Den Schriftsteller und Nachtwächter, den wunderbaren »tapernden« Pop- und metamorphosen-Autor (zuletzt An der Baumgrenze, Nr. 11) aus Bochum haben wir 2013 getroffen und in unserer dritten Ausgabe porträtiert. Eine Erinnerung:

Statt eines Gesprächs

[Oktober 2013]

Der Schriftsteller und Nachtwächter Wolfgang Welt lebt in Bochum. Er gilt als der Vater des deutschen Popromans. Das ist so ziemlich alles, was man über den 60-jährigen sagen kann. Nur, dass der Beruf Schriftsteller eigentlich eine Verlegenheitsbezeichnung für etwas vollkommen  anderes ist – genauso wie Interview hier auch nur aushilfsweise stehen muss für eine Begegnung der merkwürdigeren Art. Und etwas hat er, Welt, auch mit dem Wahnsinn am Hut, deshalb haben ihn die metamorphosen in seinem Bochumer Stammlokal, dem Tucholsky, getroffen.

Von Michael Watzka

Ob es nun gut war, den Titel des zuletzt erschienenen Interviews mit Wolfgang Welt erst nach dem Treffen gelesen zu haben, lässt sich hinterher nicht mehr sagen, jedenfalls schien die dort eingangs gestellte Frage Warum war ich eigentlich in Bochum gewesen? Über ein Interview, das mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hat sehr treffend für genau das zu stehen, was ich selbst kurz zuvor erlebt hatte. Wolfgang Welt, das ist schnell erzählt, wurde 1952 in Bochum geboren und kam außer ein paar Wochen London nie groß raus aus dem Pott. Er arbeitete und arbeitet bis heute als Nachtwächter, zuerst in der Ruhrlandhalle, dann im Rathaus und seitdem im Schauspielhaus, nebenher schrieb er immer wieder Artikel für verschiedene Musikzeitschriften wie das Bochumer Stadtmagazin Marabo oder den Musikexpress. Das kann man im Klappentext seiner Romane nachlesen oder aber, sehr viel genauer und ohne Veränderung, auch in den Romanen selbst, denn beide handeln von ein und demselben: dem Autor. Seit Mitte der 80er Jahre veröffentlichte Welt nämlich in unregelmäßigen Abständen vier Romane, so weiter im Klappentext, zunächst beim Konkret Verlag, zuletzt 2009 bei Suhrkamp. Wenn man ihn um ein Treffen bittet, erfährt man zum Beispiel, dass er gerade am Drehbuch zu Peggy Sue arbeitet, seinem ersten Roman, benannt nach dem gleichnamigen Song von Buddy Holly. Ob er denn nun wirklich der Vater der Pop-Literatur sei? »Die Leute suchen immer nach dem ersten Pop-Roman; hier ist er.« Seit einigen Jahren wird er nun auch von Wissenschaftlern wahlweise zum »größten Erzähler des Ruhrgebiets«, einer Randfigur der Literaturgeschichte, schlicht zum »Fall« (Peter Handke) oder dem Vater des deutschen Pop-Romans erklärt. Die späte Wiederentdeckung seines Werks scheint ihm allerdings ziemlich egal zu sein (»Ach, da scheiß’ ich doch was drauf«), Titel wie die eben genannten nimmt er »zur Kenntnis«.

Wo stand das nochmal?

Treffpunkt ist das Tucholsky, ein Laden, der einem schon vorher bekannt ist, wenn man auf der Zugfahrt etwa nochmal in Doris hilft liest, eben jenem 2009 erschienenen Roman, der von Welts Werdegang nicht zuletzt als Schriftsteller erzählt. Denkt man an die dort gehegten Ambitionen des jungen Musikredakteurs, könnte man meinen, Welt müsse jetzt am Ziel sein. »Peggy Sue war doch kaum von den Lektoren gelesen worden. Man mußte wahrscheinlich Beziehungen haben, aber die hatte ich nur zu Suhrkamp«, resümiert der Gelegenheitsskat- und Fußballspieler in Doris hilft mit Blick auf seine Karriere, die so richtig nie eine war. Als ein Leitfaden zieht sich der Kontakt zu Suhrkamp-Lektor Müller-Schwefe durchs Buch, eine Veröffentlichung kommt aber lange Zeit nicht zustande. »Ich schrieb keine Suhrkamp Literatur, das bildete ich mir jedenfalls ein.«
Ob er also am Ziel angekommen sei, frage ich nach im Tucholsky? »Hat sich groß eigentlich nix verändert. 2000 Mark mehr für das Buch.« Hätte sich denn was verändern sollen? »Nö. Ich wäre gerne berühmt gewesen, so vor 20 Jahren. Heute will ich meine Ruhe haben und ‘n paar Mark verdienen. Ich arbeite ja für ‘nen Hungerlohn im Schauspielhaus.«
Das Schauspielhaus, von dort kommt er gerade. Nach einer Nachtschicht und nur drei Stunden Schlaf wirkt er etwas müde und abwesend, auf den ersten Blick auch ein wenig apathisch, und nickt immer wieder kurz weg. Die dreißig Minuten Sprachaufnahme sind dann weder akustisch noch inhaltlich irgendwie verwertbar und die Fragerei wird schnell peinlich, merke ich beim Nachhören sowohl als auch schon währenddessen. Nach zwei Cappuccino machen wir uns dann auch auf die Socken. »Woll’n se noch was fragen oder sind se fertig?« Ich schalte das Handy ab und wir gehen spazieren; unser Ziel ist jetzt der Bühneneingang vom Schauspielhaus. Das Drehbuch, erzählt er unterwegs, von dem er in der Mail geschrieben habe, sei allerdings noch immer nicht ganz fertig. »Ich hab’s erst mit der Hand geschrieben, hier auf der Arbeit, jetzt muss ich’s noch tippen.« Wie man das denn mache, ein Drehbuch schreiben? »Einfach Dialoge und Szenen. Ist mir nicht so schwer gefallen. Die halten mich ja auch für ein Genie dort, ich soll ja nix ändern und alles so lassen«, grinst er, Musik wünsche er sich, na klar, von Buddy Holly.
Das Schauspielhaus, das ist der Ort, wo Welt Nacht für Nacht arbeitet, dabei Charts hört und liest, und manchmal, wie jetzt gerade am Drehbuch, nebenher schreibt. Legendär ist weiterhin sein Spind, über den es auch eine Geschichte gibt, und in dem er allerlei Bücher und anderen Kram aufbewahrt. Das steht so im letzten Roman, wo erzählt wird, wie er sich allmählich die Namen der dort ein- und ausgehenden Schauspieler und deren Geschichten merkt, und Welt erzählt es jetzt auch am Bühneneingang, wo die Frau von der Frühschicht in einem Aldiprospekt blättert und grüßt. Ob sie als eine der Ullas oder Hildes aus dem Roman wiederzuerkennen wäre, lässt sich auf den ersten Blick allerdings nicht sagen.
Dabei wird (nämlich) ein Problem offenbar, dass vor allem die sortierende Nachlese des Interviews besonders schwierig macht: Wer spricht, oder sprach da eigentlich, wer hat was gesagt? Woher kam das, mit Handkes Tormann beispielsweise, einer Lektüre, die für den 17-jährigen Welt »einer Erweckung!« gleich kam? Oder die Begegnung mit dem Schriftsteller Hermann Lenz? Hat er das erzählt, habe ich es selbst vorher noch im Zug nachgelesen, oder stammt es aus dem kurzen, eingangs zitierten Interview? Genauso wenig, wie das im Nachhinein zu klären ist, sind bei Welt Leben und Schreiben zu trennen. Wenn man das herunterbricht, ist man hier eigentlich schon am Kern der Welt’schen Poetik angelangt (wenn es so etwas gibt, nachgefragt habe ich nicht; als Antwort würde ich hier jetzt sicher irgendwas zitieren wie, »Hm, ja schon, ich mach ja keine Fiktion«). Es geht schlicht um die Gemengelage von Realität und Fiktion, die, im Falle Welts, eben keine ist, sondern sie als zwei Begriffe für ein und dasselbe behält, keinen Unterschied macht. Und deshalb erfährt man im Gespräch mit ihm nicht viel neues – es ist eher so, als würde man einzelne Passagen aus seinen Texten noch einmal nachlesen, oder als würde ein Fortsetzungsroman zu bestimmten Episoden und Zusammenhängen des Vorgängers mit etwas Hintergrundinformation aufwarten.
Er sei ein Märchenerzähler, gibt er, angesprochen auf eine Stelle im letzten Roman, zu, »aber Märchen müssen ja nicht erfunden sein.« Neunundneunzig Prozent bei ihm seien wahr, der kleine Rest nicht. Das eine Prozent entspräche in etwa auch der Nachbearbeitung seiner Texte, wie beispielsweise durch seine erste Lektorin beim Konkret Verlag: »Geändert hatte sie nicht viel. Ich änderte auch nicht mehr viel, wollte nur den Namen Flora Soft ändern, weil ich geschrieben hatte, sie hätte einem italienischen Polizisten einen geblasen, damit ein Freund mit Dope aus der Haft kam. Ute schlug nach einigen Tagen Zewa Moll vor. Ich war einverstanden.« Und weil das alles so in Doris hilft nachzulesen ist, das ja ebenfalls lektoriert wurde, darf man also raten, wie die Dame nun wirklich hieß. Melitta Mild? Milka Zart? Jona Gold?

Allerwelts Geschichte(n)

In einer Doppellesung mit Rainald Goetz und Diedrich Diederichsen ging es vor etwas mehr als einem Jahr um das Gesetz der Serie, also die Ästhetik sich täglich fortsetzender Fiktionen im sogenannten öffentlichen Diskurs. Beispiele dafür waren die täglichen Enthüllungen in der Affäre Wulff, Kriege rund um die Welt, royale Babys und anderes – Tagespresse also. Als Leitsatz wurde ausgegeben: alles ist Fiktion. Selbst das Reale, in das die öffentlichen Diskurse als tägliche Serien ja hineinspielten und das im Grunde eine fortgesetzte Serie von Eigenfiktion, Projektionen von Wünschen, oder das Erstellen von teleologischen Lebensnarrativen, eben Selbsttäuschung sei – das berühmte alles passiert aus einem Grund. Wolfgang Welt hat das erkannt, alles weggelassen und dann einfach seine tägliche Wirklichkeit, so unspektakulär die sein mochte, zum Buch – oder eher: zum Werk erhoben. Die Kunst besteht dabei darin, die alltäglichen Banalitäten und die nüchterne Alltagsrealität eines sich durchs Leben mogelnden Möchtegern-Schriftstellers, pummeligen Anti-Frauenhelden und an sich selbst scheiternden Dauerstudenten zu nichts anderem zu machen, als es ist, nur ungeschönt zu beschreiben. Ein Lebensentwurf (entwerfen klingt dabei zu aktiv, eher eine Lebensart), den man in Rezensionen von Welts Werk gerne unter dem des Versagers subsumiert liest, der aber, in seinen Eckpunkten, mehr oder weniger dem Ideal-Standard Lebensentwurf von XY aufs Haar gleicht, vermutlich die aktuelle Lebenslage der allermeisten beschreibt. Wolfgang Welt ist nur der Idiot, der Narr, der es ausspricht und dadurch zum Adressaten unseres dadurch leicht verdienten Mitleids wird – aber auch unserer Furcht; der Furcht davor, genauso zu werden oder, Gott behüte, womöglich bereits zu sein. »Das Leben«,  heißt es in Shakespeares Macbeth, »ist ein Märchen, erzählt von einem Idioten, voll von Klang und Wucht, und es bedeutet nichts.« Ein wenig lacht man auch, wenn man ihn, den Idioten, dort tanzen und »tapern« sieht, wie Welts Entdecker Peter Handke in einem Vorwort diese tastende Grundbewegung beschreibt: ein Tapern, das ein »unablässiges greifen nach etwas« sei und »zugleich schon ein ebenso ständiges Fallen lassen«. Man lacht, aber es ist ein bitteres Lachen, über den, der da tanzt und sich um das Leben erzählt – ein Lachen, das einem mitunter im Halse steckenbleibt, stellt man fest, dass man genauso gut selbst gemeint sein könnte, an seiner statt dort stehen könnte und tanzen, oder es aber längst jeden Tag tut, nur sieht es keiner, weil man selbst anstatt vom Grau-in-Grau zu erzählen lieber Farbe zum traurigen Spiel gibt und großzügig retuschiert. Wolfgang Welt also schreibt sein Leben auf, oder stellt dessen Vergeblichkeit aus.
Sein großes Vorbild ist der weiter oben erwähnte Hermann Lenz und dessen autobiografisches alter Ego Eugen Rapp. Ein wenig muss man auch an Johann Peter Hebel denken und dessen Kalendergeschichten (Welt: »Nie gelesen, wollte ich schon immer mal«), in denen Kometen am Himmel leuchten, Erdbeben die Welt erschüttern und der Rheinische Hausfreund der heimischen Dorfgemeinschaft anhand des hiesigen Kirchturms erklärt, dass die Erde rund ist, nicht eben. Das Große im und anhand vom Kleinen also, und umgekehrt. Bei Welt ist es der große Buddy Holly, der auf der heimischen Bochumer Wilhelmshöhe spaziert, zumindest im Titel des 2006 erschienen Bandes, der seine ersten drei Romane enthält; andere Texte heißen Das dritte Ei. Sieben Sekunden, die uns mehr bewegten als der Mord an J.F. Kennedy, Bochum ist überall oder Nachtschicht. Endspielerlebnis auf den Schienensträngen und Fernsehfußball mit Mephistopheles. Sie holen das Geschehen der großen Weltbühne nach Bochum und knüpfen damit an die frühen musikjournalistischen Arbeiten an, in denen es auch galt, den großen amerikanischen Pop in die  Zeitungen der Bochumer zu bringen. Welt perfektioniert die Anekdote im doppelten Sinn, das heißt, er fast sie autobiographisch und hängt an ihr die mehr oder weniger großen Kometen-Anekdoten der sogenannten Welt- oder Zeitgeschichte auf – der neue Roman von Walser, die neue Scheibe von Grönemeyer, eine Band namens Geier Sturzflug, Alan Bangs wöchentliche Chartshow im WDR, verschiedene Fernsehsendungen, News und Klatsch vom Boulevard und anekdotisches zu Frank und Nancy Sinatra. Daran an- oder aufgehängt werden dann Öffnungszeiten der lokalen Kneipen und Lottoannahmestellen, deren wechselnde Besitzer und Belegschaft und wiederum deren Lebensgeschichten, Kriegsversehrte, marode Ehen, Hobbyangler. Fremde Anekdoten, kulturelles Allgemeingut und eigene Erlebnisse kommen so zusammen. Dabei fällt die unglaubliche Detailversessenheit seiner Texte auf, die aber nie manisch wirkt, sondern notwendig, wichtig, wie um nichts zu vergessen. So wird einmal die Aufstellung einer Kreisligamannschaft tabellarisch übernommen – man muss an Handkes bekannte Aufstellung des 1. FC Nürnberg denken – an anderer Stelle wird vermerkt, dass das Lokal XY nun einen neuen Besitzer habe und seitdem das Lokal soundso sei. »Ich wollte diesen Leuten ein Denkmal setzten, die sonst nicht mal einen Grabstein bekommen«, wurde Welt einmal irgendwo in einem Interview zitiert. Oft liest man in diesem Zusammenhang auch eine weitere Charakterisierung, die ihm genauso »scheißegal« sein dürfte wie all die anderen: die des Chronisten des verfallenden Ruhrgebiets. Nachfrage, ob man das so stehenlassen könnte? »Das Ruhrgebiet ist im Grunde ein Haufen Scheiße. Aber Chronist, das ist schon richtig.«

Das Ficken-oder-nicht-Ficken-Drama

»Etwa zwei Jahre nach unserer ersten Begegnung machte mir Sabine am Telefon Aussicht auf einen Fick, allerdings nicht mit ihr selber, sondern mit ihrer jüngeren Schwester«
(Erster Satz aus Peggy Sue)

In die so sorgfältig aufgezählten, illusionslosen und dabei unbeschönigten Richtigkeiten des Alltags hinein spielen dann die gelegentlichen Anfälle; größenwahnsinnige »Trips« und »Rappel«, wie sie Welt selbst nennt, die ihn hin und wieder heimsuchen und damit alles auf den Kopf stellen. Früh wird bei ihm eine schizophrene Psychose festgestellt, die rechtzeitige Einnahme der Medikamente verhindert aber meist Schlimmeres. Wenn eben diese Welt der Bochumer Innenstadt aus den erzählerisch sorgfältig mit Details ausgefüllten Fugen gerät und Welt sein Tempo beschleunigt, entsteht eine Art magischer Realismus, ein Sog, der aus dem schnöden Grau einen farbigen Wahnsinnstrip macht und alles in der Umgebung mit hinein zu ziehen droht. Welt pilgert dann beispielsweise nach Dortmund, auf der Suche nach immer neuen Gegenständen, die er tauschen könnte, nimmt Kredite auf und bezieht alles gehörte und gelesene fortan auf sich. Einige der Trips enden mit der Einnahme der von Tesoprel, andere mit einem Aufenthalt in der Psychiatrie. Nicht weit entfernt und meistens schon am gefährlichen Ende der Trips steht dann – und das ist konsequent – die Verschmelzung der beiden simultanen Lebenswirklichkeiten, deren Unterscheidung im Normalzustand noch klappt; Komet und Dorf, eigener Alltag und Serie, Buddy Holly und Wilhelmshöhe eben. Plötzlich scheint nicht nur alles den durchs Leben Tapernden selbst zu betreffen, sondern mit einem Mal wird der Tapernde zu Buddy Holly selbst, oder wem auch immer. Die Linie, die die eigene Existenz von der sie auf- und ausfüllenden Pop-Anekdoten trennt, wird zu dem Grat, an dem sich Größenwahn und normale Verrücktheit unterscheiden. In Kein zurück, das vom ersten Aufenthalt in der Klinik 1983 erzählt, liest sich das so: »Als ich am Freitagmorgen aufstand, bildete ich mir ein, aus meinen Eltern seien Herbert Wehner und Marilyn Monroe geworden. Nur wer ich war, wusste ich noch nicht. »Ich geh mal Lotto abschicken«, sagte ich, und als ich oben auf der Flurgarderobe die Schlägermütze sah und aufsetzte, wusste ich, dass ich an diesem Morgen Brecht sein würde, fehlte nur noch die Zigarre.«

Der Idiot performt

»Der Roman. Ich habe erst einen Satz, einen Titel und einen Lektor. Den Satz könnt ihr schon mal haben: »Ich würd sie ficken.« Ein gutes Intro, find ich. Mehr will ich aber im Moment nicht verraten und geh nach Tchibo.« *(aus: Einmal Tchibo und zurück)

Nur, woher kommt dieser unbedingte Drang zum Schriftsteller-Sein? In Doris hilft jedenfalls liest Welt von Rainald Goetz’ Skandal-Performance in Klagenfurt und stellt sich vor, selbst einmal dort zu lesen. »Aber erst mal musste ich ein Buch schreiben, und dazu hatte ich jetzt keine Lust.« Und auch lesen will er nicht: »Ich las kein einziges Buch in der Zeit, auch Irre nicht«. Ein Autor, der nicht liest und nicht schreibt; es geht also um einen, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt, in dessen Bewusstsein lebt, aber am Beruf selbst nur wenig Interesse hat. »Vielleicht war ja mein Leben das Buch und brauchte nicht mehr geschrieben werden. Die, die mich kannten, konnten es lesen, und für manche war ich eben Hans Beimer.« Und weiter: »Ich werde der erste Autor, der einen Nobelpreis bekommt, ohne je ein Buch geschrieben zu haben.«
Es geht also um einen, dessen Leben selbst das Kunstwerk ist, der der es lebt, der Künstler. Wenn Schreiben und Tanzen die Disziplinen der Schriftsteller und Tänzer sind, dann wäre Welts Disziplin entweder das Leben oder die ihm eigene, mal mehr mal weniger erfolgreiche Art, es zu meistern, das »Tapern«. Und weil aber Leben keine ernsthaft anerkannte Kunstform ist, mit der sich auch Geld verdienen ließe, muss Welt den Gepflogenheiten eines existierenden Kunstmarktes entsprechen, und das ist eben – im Fall des Schriftstellers – das Publizieren von Texten.
Doch woher kommt die Auffassung, das eigene Leben könnte so ein Kunstwerk sein? »Später also dachte ich«, heißt es in Doris hilft dazu, gemeint ist nach dem ersten Aufenthalt in der Psychiatrie, »die hätten mir einen Sender eingepflanzt. Aber warum? Weil ich was ganz Besonderes war. Aber was?« Der vielleicht zentralste Satz des Buches ziert auch rückseitig der Suhrkamp Ausgabe.

Ich bin im Grunde kein Autor

Das einzige, was dieser Sprache in ihrer Unwissenheit um sich selbst nahe käme, wäre das Kino Eye eines Dzega Vertov. Und obwohl weiter oben bereits geschehen, verbietet es sich eigentlich, Welt mit Ausrufezeichen an Satzenden oder auch sonst zu zitieren. So sprechen »ernsthafte« Autoren wie Walser, wenn sie was zu sagen haben. Welt ruft nichts aus, dafür fehlt die Begeisterung, Welt schnurrt, oder brummt lakonisch – und damit ist zuerst der Erzähler, der in allen Romanen der gleiche ist, die Erzählerstimme gemeint, dann der etwas fragwürdig wirkende Mann gegenüber. Ob er denn überhaupt einer sei, so ein ernsthafter Autor, oder doch eher ein Hochstapler – die Frage ist erlaubt. »Ein Autordarsteller; ich bin im Grunde kein Autor, das ist alles zu künstlich bei mir.« Man fühlt sich an Christian Krachts Selbstbeschreibung als »Künstlerdarsteller« erinnert, oder an biographische Gesamtkunstwerke aus der Popgeschichte des vergangenen Jahrhunderts, wie Michael Jackson oder Marilyn Monroe. Ob dann nicht alle Autoren irgendwo Darsteller eines Autoren seien? »Das is ja so eine 100 Dollar Frage. Schon möglich.«
Interviews sind zäh mit Wolfgang Welt, solange jedenfalls, wie man ihn nach Literatur fragen zu müssen meint und dem Schreiben. Dass er zu Fiktion und Realität weniger sagen kann und will als zu Fiege Pils, Buddy Holly und dem legendären WDR Musikredakteur Alan Bangs liegt eben genau daran, dass er das schreibt, was er erlebt. Schreiben sozusagen als sekundäre Zweitverwertung des Gelebten, als Mitschrift vielleicht eines durch die Welt Irren(den), einer Lebensform. Mancher wirft Wolfgang Welts Schreibe Kunstlosigkeit vor; richtiger wäre eher, zu fragen, was Kunst und Kunsthaftigkeit denn sind und ob das eine das andere überhaupt notwendigerweise bedingen muss. Folgerichtig war der eigene Ansatz eines »vollwertigen« Interviews natürlich der falsche, und so wird aus dem eigentlichen Interview ein Verlegenheitsporträt, was ja auch wieder zu Welts Art Kunst zu machen passt.
Richtiger also wäre, Wolfgang Welt nach dem Leben zu fragen, seiner Version des Schreibens. Der vielmehr geeignete Interviewer für Welt müsste vom Playboy und nicht vom Feuilleton kommen. Das Thema Welts ist nicht die Literatur, sondern der Alltag; ist die Musik, sein Kosmos (»früher, aber jetzt auch nich mehr so«), die Bundesliga (»verfolge ich auch nich mehr wirklich«) und der sich anbahnende, aber dann nicht eintreten wollende nächste Fick.
Der Autor Wolfgang Welt, sein Werk, das ist die konsequente Performance einer Lebensart, ein Projekt. Das Leben als Kunstwerk. Das unterscheidet ihn scheinbar von anderen Autoren und nicht. Er eliminiert den Unterschied zwischen Kunst und Realität, das x aus der bekannten Formel der Naturalisten, Kunst=Natur. »Warum was erfinden, ist doch alles schon da?« Das absolute Werk ist das verhinderte Werk, Kunst pur wenn man so will. Seine Bücher sind ein großes Buch, ein Entwicklungsroman, ein Schelmenroman, wie Wolfgang Welt eben selbst. Man könnte sie als so etwas wie die Ausstellungskataloge zum eigentlichen Kunstwerk betrachten, aus Datenschutzgründen und sicherheitshalber mit veränderten Namen.
Der Kern des Welt’schen Werks liegt möglicherweise in seiner Konsequenz. Wo andere lebenslangen Fleiß für Karrieren, Laufbahnen, Romane, ganze Werke aufbringen, wo andere an Welts statt zumindest ab einem gewissen Punkt den augenscheinlichen Irrsinn fahren lassen würden, sich zu Veränderung gezwungen fühlten, weil sie das schlechte Gewissen packt, macht Welt weder sich selbst noch sonst wen verschonend weiter, ohne jemals Bestätigung zu bekommen. Keine Veröffentlichung, keine Authentifizierung des eigenen Werkes, des eigenen Weges von extern als den richtigen, der Holzweg ist gerade gut genug. Fortgesetztes Scheitern, ab und an Aufschreiben. »So ist das numal«. Das spiegelt einerseits Biographien wie die eine Hunter S. Thompson oder William S. Burroughs nach, hat aber andererseits auch viel mit dem Wahnsinn zu tun, auf den man als einen Aspekt des Werkes noch stärker eingehen muss oder sollte. »Meine Rezeption«, meint Welt, »geht im Grunde bisher völlig am Wahnsinn vorbei.« Die diagnostizierte Psychose, die Ausbrüche und Aufenthalte in der Klinik, mit denen Welt ja augenscheinlich kokettiert, machen das Aberwitzige des ohnehin schon Vorhandenen noch einmal eine Spur verrückter, aber auch fassbar, sie bannen es in einer Diagnose, einem Begriff. Genau hier kommen die vorhin angespielten Mitleid und Furcht ins Spiel, eleos und phobos, Katharsis nennt man das. Man sucht sich abzugrenzen, denkt sich, gottseidank, so verrückt bin ich ja auch nicht, freut sich seiner habhaft zu sein und prompt wird man getäuscht; denn die Erbärmlichkeit des Ideal Standard Lebens eines Herrn Müllers oder wem auch immer entspricht eben doch eins zu eins der des Versagers aus Bochum, die Wirklichkeit Welts der tausend anderer Menschen – »Bochum ist überall«, sagt Welt oder lautet der Titel eines Textes. Nur stellt Wolfgang Welt sie zur Schau, vertuscht sie nicht; Akzeptanz könnte man das nennen, das letzte Stadium auch des Sterbeprozesses. Wie wir die eigentliche Erbärmlichkeit des täglichen sich Durchwurstelns, des Sich und den eigenen Vorstellungen von sich Nicht-Genügens verdrängen, beiseite lassen in unseren Erzählungen von uns selbst, verdrängen wir auch erfolgreich das, was uns allen früher oder später blüht, der Tod. Akzeptanz. Wolfgang Welt ist also ziemlich viel weiter als die allermeisten.
Auch darf man sich nicht von der diagnostischen Verrücktheit, die alles in allem doch nur einen kleinen Teil seiner Prosa ausmacht, über die eigentliche, gesunde, Alltagsverrücktheit alias Erbärmlichkeit hinwegtäuschen lassen, die ja dann wieder, jenseits von eleos und phobos, uns selbst beträfe. »Der letzte Rappel ist auch schon wieder zwanzig Jahre her, die Medikation ist einfach zu stark. Als ich einmal, ’91 war das, die Medikation ausgesetzt habe, entgegen dem ärztlichen Rat, bin ich wieder in der Klinik gelandet, also was ich in Doris hilft ganz am Ende erzähle.« Nicht ganz unähnlich zu Max Frischs Stiller beginnt Welt dort, in der Klinik, einen Roman zu schreiben, als Therapie. Ob das gelingt? »Nö«.
Der Wahnsinn ist, wenn man so will, das Salz in der Suppe von Welts Romanen. Ob er denn nochmal einen schreiben wolle? Im Moment sei noch ein Roman in Arbeit, antwortet Welt, Arbeitstitel Fischsuppe, der Nachfolger zu Doris hilft, aus dem aber auch zwei werden könnten. Generell sei das Problem das Ausbleiben seiner Trips, die Medikation. »Seit 1999 bin ich sozusagen clean, keine Anfälle, keine Rappel mehr, seit ich eben die Tabletten nehme; und wenn kein Wahnsinn drin ist, ist das für den Verlag natürlich nix.« Schon öfter habe er sich gedacht, was wolle er denn jetzt noch erzählen, er könne genauso gut aufhören mit der Schreiberei, mit 60 Jahren. Ob er das so einfach könne, nicht mehr Schreiben? »Der Künstler kann wahrscheinlich nicht Leben ohne Künstler zu sein. Der Künstlerdarsteller schon.«
Warum war ich also in Bochum gewesen? Wolfgang Welt schreibt mir als Widmung ein krakeliges »Rave on!« – Höre nicht auf zu träumen – auf die erste Seite, mit Ausrufezeichen! Ob er denn noch träume? Das frage ich mich im Zug auf der Rückfahrt und kann es ihn nicht mehr fragen. Wer weiß?

Von Wolfgang Welt erschien zuletzt in den metamorphosen An der Baumgrenze (Nr. 11).

Ein wandelndes Wurmloch mit Nachtsichtgerät

Über Lil Waynes außerirdische Tendenzen

von Joshua Groß

[Was folgt, bezieht sich auf Lil Waynes ausnahmslos genialische Phase zwischen Tha Carter II und Tha Carter III; also auf die Jahre 2006 bis 2008, in denen er vom selbsternannten best rapper alive zum nimmermüden und stets narkotisierten Außerirdischen wurde, als der er uns in seinen besten Songs auch heute noch erscheint.]

1/ Area Code 504

Natürlich gibt es unendlich viele Möglichkeiten, sich der Musik Lil Waynes zu nähern. Eine vorsichtige (aber empfehlenswerte) besteht darin, den Film Beasts of the Southern Wild (2012) zu schauen. Er zeigt einen mythischen Bundesstaat Louisiana, tief im Süden der USA: Hier befindet sich Lil Waynes Heimatstadt New Orleans; vom Hurrikan Katrina zerstört (2005), umgeben von Sumpf, Schauplatz des besten Bond-Films überhaupt (Live And Let Die, 1973), zeitweiser Aufenthaltsort von William S. Burroughs (vergleiche die Figur des Old Bull Lee in Jack Kerouacs On The Road) und eine der berüchtigten Brutstätten des Blues.

Wer genau hinhört, findet in Lil Waynes wahnwitzigen und überbordenden Lyrics immer wieder kleine Erinnerungen und Hommagen an seine Kindheit in New Orleans. Auch wenn es sich dabei meistens um Nebensächlichkeiten handelt, die in keinem ersichtlichen Zusammenhang zu den übrigen Zeilen stehen, fungieren diese Anekdoten als Wellenbrecher für die statusbetonende, überhebliche und schrankenlose Ignoranz, die sonst zu Lil Waynes tagtäglicher Attitüde gerinnen würde (wenn sie nicht sowieso zu seiner tagtäglichen Attitüde geronnen ist). In diesen Anekdoten enthüllt sich sozusagen seine Menschlichkeit (und verbindet den inszenierten Rapper mit der Realität).

Relying on rap, but in the kitchen I’m a chemist
And when I was five
My favorite movie was The Gremlins
Ain’t got shit to do with this
But I just thought that I should mention
(»Sky Is The Limit«, 2007)

I remember being young, trying to hustle my dope
Trying to tell the old junkies that my crack ain’t soap
(»Fly In«, 2005)

Back when I was pedaling my ten-speed bike
Who knew I’d be pedaling the six-speed white
(»President«, 2007)

I remember being small mane
New toys when my momma won a card game
Got my gifts before Christmas
Didn’t have to wait for them
I had a ten-speeder, scooter, and a skateboard (ha ha)
(»La La La«, 2007)

Reporting from Kim’s corner store
   
Hollygrove, 17th carnivore
    
Ridin’ through the city in a Tonka toy
    
I got old money, coulda bought a dinosaur, huh
    
(»S on my chest«, 2007)

2/ Welcome to the Concrete Jungle

Dietmar Dath schreibt über Lyrics allgemein: »Texte sind überhaupt, wie Programme bei Programmmusik, gewissermaßen stets nur das Pfeifen des semantischen, des bezeichnenden, verhältnismäßigen und deutenden Verstandes im Dunkeln des Musikalischen: lauter kleine Anker in der sprachlichen Welt der Gründe, der Ursachen und Folgen, des Vergleichens und Unterscheidens.«
Bezogen auf Rap ist diese Aussage vollkommener Unsinn. Und bezogen auf Lil Wayne steigert sich dieser Unsinn sogar noch weiter, bedenkt man, dass dessen seltsam verdrehte sprachliche Fähigkeiten die eigentliche Ausdeutung des dunklen Verstandes vornehmen. Vor dem notwendigen Hintergrund musikalischen Pfeifens.
Lil Waynes geschmeidiger Flow besteht aus Gekrächze, verzerrtem Singsang, benebelter Intuition und unsäglicher Pointiertheit (How come every joint be on point like a harpoon?). Etwaige Hochachtung vor der Musik verwandelt sich in wortverspielte Zerstörungswut (Yeah, higher than all of the angels be / And no, I never choke, but I strangle beats bzw. Cause everytime I hit a track, I’m like an energy pack / The instruments are crying out: where the sympathy at?). Es scheint, als würde Lil Wayne ein überirdisches Momentum suchen (die Worte, die das kosmische Wirrwarr unserer Existenz lösen können), um neue Galaxien zu erschaffen; Galaxien, die seine Energie speichern und in der Raumzeit festschreiben. Man könnte meinen, Lil Wayne ist in seinen luziden Träumen ein wandelndes Wurmloch mit Nachtsichtgerät. And fuck the best, nigga, I’m ’em / Bitches wanna fuck, like they’re me, and I’m them / Yeah, they share me like oxygen …


Alle möglichen Bekenntnisse, Beobachtungen und metaphysischen Spekulationen werden von Lil Wayne in einem Slang vorgenommen, der sich Außenstehenden gewissermaßen hermetisch entzieht, aber deshalb nicht weniger aufschlussreich ist, wenn man sich erstmal in den Dschungel seiner Denkstrukturen vorgearbeitet hat. Zumal auch in den Vorhallen des Hermetischen seine Ambition und sein Charisma durchwegs spürbar sind.

3/ Ihr müsst alle lernen, wie man überlebt

Rap und Blues weisen auffallende Übereinstimmungen auf; in der Herkunft (selbe Hoods, soziokultureller Background), Struktur (ein sich wiederholender, womöglich monotoner Rhythmus, darüber Gesang bzw. Sprechgesang) und Inhalt (drugs, women, gunplay, money).
Rap ist aber nicht die Evolution des Blues (und auch nicht der Blues der Postmoderne). Sondern eine ähnliche Reaktion auf eine ähnliche Lebenswirklichkeit, also grob verkürzt: afroamerikanische Verständnislosigkeit als originärer Ausdruck, angesichts der idiotischen sozialen Verhältnisse; mit dem Unterschied, dass der Blues womöglich das Selbstmitleid akzentuiert, wohingegen dem Rap hauptsächlich Wut und Aggression als Treibstoff dienen.
In seinem beachtlichen Frühwerk Signifying Rappers (1989) schreibt David Foster Wallace: »Thema, Kraft, Scharfsinn und formale Raffinesse des Rap sind das, worüber jeder schäbig gekleidete Zuschauer am Fenster ohne Außenseiterstatus einen ästhetischen Zugang zu dieser Musik suchen muss.«
Allerdings ist die Verbindung, die wir zum Rap aufbauen können, viel elementarer: Im kognitiven Kapitalismus (und beginnenden Datentotalitarismus) ist wahrhaftige Freiheit eine Farce. Und sowohl der Blues als auch der Rap (sowie der Rock’n’Roll und jedes andere ernstzunehmende Musikgenre im 20. Jahrhundert und danach auch) sind in ihrem Kern zuallererst Freiheitsbestreben. Im Rap bedeutet das: Die Sehnsucht nach Stolz und Selbstermächtigung äußert sich, leicht verzerrt, in Größenwahn, im Überlegenheitsgestus und in Kampfansagen. Und wir alle, die wir uns knietief in der psychotischen Schockstarre eines paranoiden oder eskapistischen Prekariats befinden, könnten allemal ein bisschen Stolz und Mut zur Selbstermächtigung gebrauchen (mehr denn je). Insofern kann der Rap im Jahr 2016 auch außerhalb irgendwelcher Ghettos sinnstiftend sein.

4/ Distinktionsmerkmal: to alienate

Um seinen Ausnahmestatus als best rapper alive zu illustrieren, entwickelte Lil Wayne irgendwann die Metapher der eigenen Abstammung vom Mars. Das beginnt mit einer räumlichen Verschiebung (and my mind is on another continent) und wird bald zum Ausdruck für die Lichtjahre, die angeblich zwischen ihm und der rückständigen Konkurrenz liegen.

I have no brain I’m retarded
    
We are not the same, I’m a Martian
  
(»Dough Is What I Got«, 2007)

We are not the same, I am a martian
  
(»Phone Home«, 2008)

I am just a Martian, ain’t nobody else on this planet
    
I know, see I live by my only
    
Say, where my cheese, nigga? Where my macaroni?
 
(»Seat Down Low«, 2007)

Lil Waynes Style ist am besten als stream of narcotic consciousness zu begreifen: Irrwege; Einsichten; Konfetti; Geldbesessenheit; Augenzwinkern; also umwerfende Intelligenz, unbeirrbar und achtlos abgespult, ohne Angst vor mentalem Treibgut, das womöglich in die Brandung des Beats gespült wird. Eine unnachahmliche Hirnlosigkeit beziehungsweise ein tumultartiges Zersetzen des eigenen Geistes, um alle möglichen Versionen eines Gedankens zu entlarven.
Immer high auf Sizzurp und Weed, wandelt Lil Wayne somnambul über die Instrumentals, gerade so gehalten von seinem sechsten Sinn (drink a lotta syrup, bitches say I’m sleep walkin’). – Lichtgestalt, Millionär, Kommerzschamane, Referenzkarussell, Junkie und Hure. Behangen mit Dreadlocks; einen debilen Diamantgrill im Mund; roter Lolli in der Hand. Lil Wayne ist Selbstopferung und Narzissmus.
I love brain, I need a leech: Ich liebe Blowjobs, ich brauche einen Blutegel. In einer banalen Auslegung der Biologie heißt es, Blutegel haben 32 Gehirne. Ungefähr so sind die Ecken ersonnen, um die man denken muss, wenn man Lil Waynes Kosmos wirklich begehen möchte.

5/ »I could eat them for supper, get in my spaceship and hover … «

Die Erklärungsversuche, die in der Vergangenheit für UFOs abgegeben wurden, sind breit gefächert. In früheren Zeiten betrachtete man solche Flugobjekte als Heimsuchungen oder Omen aus dem Reich des Übernatürlichen, die sowohl göttlichen als auch dämonischen Ursprungs sein konnten. In unserem technischen Zeitalter vermutet man, dass es sich bei den Insassen um Besucher aus dem All, Zeitreisende oder Botschafter von Bewohnern des Erdinnern handelt. Andere meinen, dass UFOs entweder Gedankenprojektionen oder aber das Ergebnis massenpsychologischen Wahns sind.
(Die Welt des Unerklärlichen: UFOs. Unbekannte Flugobjekte aus einer anderen Welt. Rastatt 1993)

Wie geht das alles?

Nun, mit Humor und Neugier, den beiden wichtigsten Ingredienzien der Intelligenz.

(Roberto Bolaño)

Release in Greifswald

Am 30.04. haben wir unsere neue Ausgabe (Nr. 13) im Greifswalder Falladahaus vorgestellt.

Zu hören waren Essays, Kurzgeschichten, Lyrik – und Jazz. Gelesen haben Philipp Böhm, Matthias Friedrich, Carla Hegerl und Jonas Rump, für die Musik sorgten Tobias Altripp und Stephan Busse.

Es war ein wunderbarer Abend, wir bedanken uns bei unseren Autoren und den Zuschauern für’s Kommen und beim Falladahaus für die gute Organisation. Wir kommen gerne wieder!

Eindrücke von der Lesung:

IMG_20160501_125408 IMG_20160501_125340 IMG_20160501_125401IMG_20160501_125348 IMG_20160501_125245 IMG_20160501_125304