Neue Ausgabe, letzte Ausgabe

Wir verfolgen ambitioniert unsere Pläne oder haben Zukunftsängste, wir schwelgen in Erinnerungen oder bereuen Entscheidungen. Was wir dabei oft vergessen: die Gegenwart. Den scharfen Blick auf das, was uns umgibt: das Jetzt. In ihrer letzten Ausgabe werfen die metamorphosen keinen nostalgischen Blick zurück und extrapolieren auch nicht, wie so oft, Zukünftiges, sondern lassen sich radikal auf die Gegenwart ein. Wie empfinden wir Gegenwart? Welche Phänomen, welche Themen machen sie aus? Und was nutzt sie überhaupt, als Konzept? An Antworten auf diese und viele weitere Fragen versuchen sich Autor*innen, deren Schreiben uns in den zehn (Verzeihung: verdammt schönen!) Jahren Redaktionsarbeit begleitet oder, im besten Sinne, verfolgt hat. Das Ergebnis: Literatur der Gegenwart. Oder: Gegenwartsliteratur! Viel Spaß bei der Lektüre wünschen, ein letztes Mal, die metamorphosen

Call For Papers: Strafen

Wer nicht hören will. Wer nicht gehorchen will. Wer nicht gehorchen kann. Wer nicht lernen will. Wer es nicht besser weiß. Wer nicht dazugehört. Wer nicht dazugehören kann. Wer sich nicht unterwerfen will. Strafe muss sein. Strafe ist sinnvoll, ergibt Sinn für eine Gesellschaft, die auf eine Politik der Trennungen angewiesen ist. Strafe entzieht Rechte. Strafe isoliert. Strafe zeichnet. Strafe hat noch niemandem geschadet und wer sie erhält, hat es auch nicht anders verdient.

In der nächsten Ausgabe der metamorphosen widmen wir uns den Strafen – den gesetzlich festgeschriebenen, den abgeschafften, den unausgesprochenen. Wer mit dem Gesetz in Berührung kommt, muss mit Konsequenzen rechnen. Es ist unser eigenes, schuldhaftes, rechtswidriges Handeln, das bestraft wird. So sagt es die Sprache der Juristerei klar und gleichzeitig wolkig. Aber warum fürchten wir einen Gang zum Amt? Warum fürchten wir die Polizei? Warum sind unsere Gefängnisse voll mit Schwarzfahrer:innen? Was ist mit der Rache, was ist mit „Auge um Auge“? Und wenn drei gegen eine stehen, sind die drei dann das Gesetz? Wer gibt das Recht für die vielen kleinen Strafen im privaten, halbprivaten und sehr öffentlichen Raum? Und wie fühlt sich das eigentlich an – die Rechte zu verlieren?

Wir suchen eure Texte (max. 10 Seiten) übers Strafen – Erzählungen, Protokolle, Essays, Gedichte, Szenen, Mitschriften, Anklagen. Deadline ist der 31. August 2021. Schickt sie an: redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Eine andere Geschichte. Der neue Roman von Christian Kracht

von Oliver Heidkamp

Nonchalant und gelegentlich belanglos kommen die Dinge im neuen Roman Eurotrash von Christian Kracht daher. Ganz nebenbei jedoch erfüllen Krachts federleichte Sätze die Gegenwart mit dem Sound einer verdorbenen Vergangenheit, die in das Leben des Schriftstellers, seiner sozialen Herkunft sowie seiner eng mit dem Nationalsozialismus verwickelten Familie radikalen Einblick zu verschaffen vorgibt. Anstatt jedoch bloßen Voyeurismus zu bedienen, legt der Autor Stolpersteine, die alte Vorwürfe aufgreifen und als Irritation zurückbleiben.

Die Fortsetzung

Mit dem neuen Werk schließt der Autor an sein 1995 veröffentlichtes Debüt Faserland an, wie der Ich-Erzähler gleich zu Beginn erwähnt, wenn er in Zürich stehend von dem »relativ traumatisch[en]« Ende dieses Romans erzählt. In diesem Roadnovel, die Quelle der Faszination um den Autor Kracht, unternimmt jener mitunter kühle, wohlhabende, verlorene, stets maßlos betrunkene Ich-Erzähler – »Lust und Selbstzerstörung liegen nah beieinander« (S. 86) – von Sylt zum Zürichsee eine melancholisch-düstere Reise durch Deutschland, und faselt stets unzuverlässig daher. Entgegen dieser scheinbaren Belanglosigkeit legt der Romantitel eine Tiefenstruktur frei: Erstens impliziert er, dass Deutschland aus Fasern besteht, also dem Stoff, aus dem sich ein Text (lat. textus: Gewebe, Geflecht) zusammensetzt, eine Geschichte, die der Roman erzählen will. Zweitens ist er eine intertextuelle Anspielung auf den 1992 erschienenen, kontrafaktischen Detektivroman Fatherland von Robert Harris und legt wie dieser nahe, dass der Nazismus in der deutschen Gegenwart fortbesteht, den Text mitschreibt.

Der Nationalsozialismus ist im neuen Buch ebenfalls präsent. Anders als im Erstling jedoch, in dem der Erzähler namenlos blieb, wird dem Ich-Erzähler aus Eurotrash, der nicht durch Deutschland, sondern mit seiner Mutter durch die Schweiz reist, eine scheinbar eindeutige Identität zugewiesen. Er trägt den Namen des Autors, hat ebenfalls ein Vierteljahrhundert zuvor einen Roman unter dem Titel Faserland geschrieben und der Vater des Erzählers, Christian Kracht (senior), war, wie der echte Vater, der enge Mitarbeiter und Verlagsmanager Axel Springers.

Die biografische Deckung von Autor und Erzähler ist zunächst bemerkenswert, denn es handelt sich immerhin um jenen ewig abwesenden, in L.A., Nepal, Buenos Aires oder sonst wo auf der Welt lebenden Autor, der mit einer geheimen Lust das Versteckspiel um die eigene Person aufbauscht. Einmal hat er beispielsweise behauptet, in »Argentinien in die Politik zu gehen, in den Neo-Peronismus. Die Falkland-Inseln befreien.« Ein Dickicht aus Andeutungen und Anspielungen führte dazu, das scheinbar kaum etwas mit Sicherheit über ihn gesagt werden kann, weil die ohnehin öffentlichkeitsscheue Person dahinter nicht mehr zu erkennen ist.

Nazis & Kracht

Jenes vertrackte Versteckspiel des Autors hat als Motiv sogar eine eigene Bezeichnung erhalten: der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher nennt das von Nähe und Distanz geprägte Schreiben Krachts ein »omnipräsentes Verschwinden«, das zur Mystifizierung des Autors führte, vermutlich aber auch mitverantwortlich an einem regelrechten Literaturskandal war, als 2012 der Roman Imperium von Kracht veröffentlicht wurde, der den deutschen Kolonialismus in den Blick nahm. Damals wartete der damalige Spiegel-Redakteur Georg Diez mit einer wuchtigen Rezension auf, die den Autor als »Türöffner rechten Gedankenguts« bezichtigte. Diez las den Roman einerseits im Kontext von Krachts anderen Schriften und verwies insbesondere auf 5 Years, einen seltsamen Briefwechsel mit dem kanadischen Künstler David Woodard, dem Kracht einen ausgeklügelten Umgang mit den eigenen rechten Ideen attestierte – ein Anzeichen für Diez, dass Kracht jenen Ideen ebenfalls nicht fern stehe. Um den Verdacht rechter Gesinnung zu schärfen, legte die Rezension eine Gleichsetzung von Autor und Erzähler nahe, um vermeintlich rechte Denkstrukturen erkennbar werden zu lassen. Dieser Vorwurf wurde von der überwiegenden Mehrheit des Literaturbetriebs als haltlose Unterstellung, als Rufmord, kritisiert und einige Autor*innen, wie Elfriede Jelinek oder Daniel Kehlmann, sahen sich veranlasst, Krachts erzählerisches Vorgehen in einem offenen Brief zu verteidigen. Vergessen ist dieser Vorfall jedoch nicht. Kracht selbst provoziert im neuen Roman eine erneute Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Autor und Erzähler sowie Nationalsozialismus und Gegenwart.

Vor dem Hintergrund von Diez’ Verunglimpfung nämlich erscheint es als Herausforderung zum kritischen Lesen, wenn Kracht mit Eurotrash diese Verwechslung von Autor und Erzähler regelrecht intendiert. Und dieser Eindruck wird auch nicht dadurch gelindert, dass die in Eurotrash angestrebte, scheinbar ungebrochene Identifikation von Autor und Erzähler in die literarische Gattung »Roman« eingebettet ist, also eine fiktionalisierte Geschichte erzählt, und keine detailgetreue Biografie. Die Dialektik von Wirklichkeit und Fiktion, Autor und Erzähler, wird vielmehr den ganzen Roman hindurch aufrechterhalten.

Der Roman beginnt damit, dass der Erzähler Kracht allein durch das nächtliche, von »geldgierigen Oberleutnants und selbstherrlichen Strizzis« bevölkerte Zürich läuft und später, im Hotelzimmer liegend und mit den Gedanken bei der verwahrlosten Mutter, die er besuchen möchte, seine Kindheitserinnerungen durchstreift. Hier, wie auch in Krachts anderen, den großen Ismen wie Kommunismus (Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten), Imperialismus (Imperium) und Nationalsozialismus (Die Toten, Faserland) nachspürenden Werken, wird das faschistische und antisemitische Deutschland literarisch bearbeitet, und zwar, indem der Erzähler Einblicke in die Familiengeschichte mütterlicherseits gewährt. So etwa, wenn er von den sadomasochistischen Träumereien des Großvaters berichtet, der eine steile Karriere als Untersturmführer der SS sowie in der Reichspropagandaleitung der NSDAP hingelegt hat und trotz Entnazifizierung im britischen Internierungslager Delmenhorst-Adelheide im Haus auf Sylt weiterhin seinen rechtsnational gesinnten Ideen frönt. Zusammen mit dem isländischen Au-pair-Mädchen studiert der Großvater das nordische Alphabet, »in dem die deutschen Statthalter der nordischen Rasse die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit lesen konnten«, und erforscht sonstige rechte Verschwörungstheorien bzw. Pseudowissenschaften. Nebenbei sehnt sich der Großvater, wie die nach dessen Tod aufgefundene Sammlung erotischer Utensilien den Erzähler vermuten lässt, nach sexuellen Ausschweifungen mit eben jenem isländischen Mädchen. Diese Schilderungen sind geprägt von Komik, wenn etwa die Fantasie mit dem Erzähler durchgeht und er sich vorstellt, wie Sigríðr, das Au-pair, den Großvater mit Stacheldraht an ein Tischbein fesselt und ihm lüsterne Dinge zuflüstert.

Es gibt aber auch weniger Unverfängliches. Obwohl der Erzähler erkennen lässt, dass er das rechte Denken des Großvaters verachtenswert findet, löst sein Vokabular zugleich Befremden und Unbehagen aus, wenn er vor dem Hintergrund des Fetischs und der Nazivergangenheit die Familie etwa als »zutiefst gestört« und von »Geisteskrankheit« heimgesucht bezeichnet. Hier werden, ganz nebenbei, Dinge zusammengebracht, die nicht zusammengehören, und die erst bei weiterem Nachdenken immer seltsamer erscheinen. Denn Fetisch ist keine Krankheit, sondern eine sexuelle Neigung, Nationalsozialismus hingegen eine politische Ideologie. Vor allem letzteres als geisteskrank zu bezeichnen, entschuldigt und bagatellisiert die konkreten Pläne und die ausgeklügelten Vernichtungsgedanken, die zum Holocaust geführt haben, als das Werk Unzurechnungsfähiger. Vor dem Hintergrund der Rassenhygiene besteht zwischen Nationalsozialismus und Geisteskrankheit ohnehin eine diffizile Verbindung. Schließlich ist allein der Begriff »Geisteskrankheit« antiquiert, ungenau in seiner Unterscheidung von krank und gesund, unnormal und normal.

Es gibt somit eine ganze Reihe an Fragen, die die Verquickung von Geisteskrankheit und Nationalsozialismus auslöst. Bei genauerer Betrachtung entsteht der Eindruck, dass es dem Roman gar nicht so wichtig zu sein scheint, dieses Verhältnis zu dechiffrieren, es aufzuhellen, sondern dass es im Unklaren, im Dunkeln belassen wird, dass Geisteskrankheit und Nationalsozialismus zu »Abgründen, die tiefer und abgründiger und elendiger nicht sein konnten«, wie der Erzähler auffällig repetitiv betont, erklärt werden, sodass sie auf ewig ihr Unwesen mit der Gegenwart treiben. In der gleichen Passage wird denn auch die Unwahrscheinlichkeit besprochen, wie der Erzähler Christian Kracht in diesem faschistoiden Umfeld zu einem »normalen« Menschen heranwachsen konnte, dass es dieser »gestörten« Sozialisation zu verdanken sei, dass er geworden sei, wer er sei. Spätestens hier ist Aufmerksamkeit für das gefragt, was denn dieser »normale« Autor so schreibt. Bislang mutet es mitunter wie ein Nährboden für eine Ursprungserzählung des Mythos Christian Kracht an – das Genie aus der Nazifamilie, sozusagen. Wir kommen darauf zurück.

Wir irren im Werk im Kreis umher und werden von ihm verzehrt

Darüber hinaus ist es auch eine persönliche, aber höchst uneindeutige Geschichte über Mutter und Vater. Über den Vater, der sich aus schwierigen Verhältnissen hocharbeitet in ein Milieu, in dem er gut zu lügen und sich anzupassen weiß, und doch immer ein Parvenu bleiben soll, also jene soziale Figur, die sich in den Kreisen der Oberschicht bewegt, aber das alte Milieu, den Stallgeruch, nie wird ablegen können. Und so stellt sich die Frage, ob diese Geschichte etwas beweisen will, etwa die Prägung durch die soziale Herkunft. Ist sie so eindeutig, wie der Begriff Klasse impliziert, der unlängst die Debatten in den Feuilletons charakterisiert, besonders seit Didier Eribons literarischer Milieu- und Klassenstudie Rückkehr nach Reims, die, wie auch der Roman Ein Mann seiner Klasse, von Christian Baron, die Klasse als strukturbildende soziale Kategorie in der eigenen Biografie und besonders hinsichtlich des eigenen Vaters in den Blick nahm? Dafür spräche, dass dem Erzähler in Eurotrash das überzogene, elitäre Verhalten des Vaters, das sich durch ein fragiles, peinlich überhöhtes Klassenbewusstsein auszeichnet, als Folie dient, um über die eigenen intellektuellen Unzulänglichkeiten zu sprechen, die er mittels intertextueller Verweise in seinen Büchern zu kaschieren versuche. Ähnlich wie die Gebärden des Vaters, sollen diese Verweise – in Eurotrash etwa auf Guy Debords letzten Film In girum imus nocte et consumimur igni (Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt) – Intellekt, also kulturelles Kapital, vortäuschen, um sich zu distinguieren, der eigenen Klasse gerecht zu werden.

In der Geste des Offenlegens des eigenen Verhaltens analysiert der Erzähler sodann auch seine literarische Vorgehensweise und übt sich im Stil der Authentizität, die mehr und mehr als konstruiert erscheint. Er verweist etwa auf sein Erstlingswerk, das, so seine Vermutung, die Leserschaft aufgrund der »glaubhaften« Art davon überzeugte, dass der Ich-Erzähler der Autor selbst sei. Dies, so beteuert der Erzähler, sei einerseits gewollt, andererseits sei es Blödsinn, denn er hasse ja die Band die Eagles. Das ist amüsant und wirkt sehr glaubhaft, weil häufig Partikeln wie »also« und »ja« verwendet werden, die, wie der Duden sagt, »verstärkend bei gefühlsbetonten Aussagen« wirken. Vor allem täuschen sie Mündlichkeit vor. Diese auf Oralität verweisende Erzählweise verleiht dem Ganzen etwas Intimes. Das passt sehr gut, trügerisch gut, denn der Erzähler gibt ja intime Einblicke in seine Überlegungen bezüglich des Romans, wie auch die Tabletten- und Alkoholsucht der Mutter, die an der Goldküste in Zürich, einem Wohlstandsviertel, körperlich und psychisch zerfällt.

Die Schilderungen des Lebens der Mutter folgen dieser auf Intimität getrimmten Erzählweise. Und der Besuch im Haus der Mutter, in dem der Erzähler hofft, nicht wieder eine Blutlache wegwischen zu müssen, weil die Mutter im alkoholisierten Zustand gestürzt ist, sich den Kopf gestoßen hat und ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, mutet mitunter an wie der echte, unverstellte Bericht eines Lebens am Abgrund. Und vielleicht ist er das ja auch. Teilweise.

Denn die Mutter entpuppt sich in der darauf folgenden, kurzweiligen, wenn auch etwas arg zerfasernden, spontanen Taxireise durch eine als dekadent und abgehoben beschriebene Schweiz als eine überraschend gewiefte und zynisch-witzige Dame, die entlarvende Beobachtungen macht und gar nicht psychisch unzurechnungsfähig erscheint, wie der Erzähler sagt. Vielmehr scheint sich nur die Vermutung zu bestätigen, dass der Erzähler eine unzuverlässige Instanz ist, eine literarische Figur. Dies alles ist nicht nebensächlich, sondern Teil einer äußerst ambivalenten Geste, die die soziale Herkunft einerseits analysiert und andererseits zugleich offenlegt, dass es sich nicht um eine bloße Analyse, sondern Fiktion handelt, das Metier des Schriftstellers, der (s)eine Geschichte schreibt. Das wirkt, als würde die Sensationslust, der perfide Voyeurismus all jener naiven Leser*innen instrumentalisiert werden, die sich immer die Nähe zu diesem Autor gewünscht haben; doch sie sollen stets nur weitere Verwirrungen im Werk entdecken, um von ihm verzehrt zu werden.

Geschichte(n) erzählen

Kracht geht es nicht darum, etwas über sich, seine Familie oder seine Klasse zu erzählen, sondern das Erzählen als eine Praxis zu verstehen, die die Geschichte verändert. »Sollte es aber gelingen«, so mutmaßt der Erzähler einmal, »den Kreislauf der Geschichte zu unterbrechen, dann könne man nicht nur die Zukunft direkt beeinflussen, sondern auch die Vergangenheit.« Auf die Familiengeschichte bezogen läge die Vermutung nahe, dass der Kreislauf der Geschichte unterbrochen werden könne, indem sie in ihrer verletzlichen Verlogenheit dargestellt wird und ungeschönte Einblicke gegeben werden. Während der Vater zeitlebens versucht hat, die Mutter vor der Öffentlichkeit versteckt zu halten, sodass ihr Alkoholismus weder die neo-absolutistische Gesellschaft, in welcher er kursierte, noch sein eigenes Selbstbild untergrub, geht der Erzähler Kracht einen anderen Weg: Er zeigt diesen nicht sehr ansehnlichen, aber unterhaltsamen sozialen Abfall, dieses vermeintliche Luftschloss aus Eitelkeiten und Behauptungen eines verkommenen, europäischen Geldadels, der die Verbindung von Geld und Müll wie ein Markenzeichen mit sich trägt, den Eurotrash.

Vieles bleibt am Ende jedoch ungeklärt. Warum zum Beispiel die nationalsozialistischen Täter als unzurechnungsfähig und damit auch die historische Geschichte bagatellisiert wird, ist keine einfach zu beantwortende Frage. Sie könnte einen fahrlässigen Umgang nicht nur mit Geschichte, sondern auch mit dem eigenen Text nahelegen. In Anbetracht der kontroversen Rezeptionsgeschichte um Krachts Werke erscheint das aber unwahrscheinlich. Oder sie offenbart ein abgefeimtes, künstlerisches Kalkül, das es geflissentlich hinnimmt, dass alte Vorwürfe gegen den Autor in Erinnerung gerufen werden, um einem uneingeschränkt positiven Bild der eigenen Person entgegen zu wirken. Diese Perspektive scheint im Kontext der ambivalenten Erzählstruktur schlüssiger. Was wird dem Erzähler geglaubt, der seine persönliche Geschichte erzählt, die einerseits den Nationalsozialismus verachtet und selbst zugleich rechte Denkstrukturen offenbart, wo ist die kritische Haltung der Leser*innen gefragt? Das omnipräsente Verschwinden des Christian Kracht hätte demnach Methode. Es wird somit kein narrativer Schlussstrich gezogen, der die eigene und die historische Geschichte als beendet erklärt. Nicht ohne Grund scheint dem Buch ein Zitat des indischen Theosophen und Philosophen Jiddu Krishnamurti vorangestellt, das das Nicht-Verstandene als Voraussetzung für das Erinnern betont: »What is fully, completely understood // leaves no trace as memory.«

Call For Papers: Dialoge

Eine literarische Gattung war in den metamorphosen bisher ein wenig unterrepräsentiert: die Dramatik. Deshalb widmet sich die nächste Ausgabe nun der Textform des Dialogs: Ob als dramatischer Text für das Theater, für ein Hörspiel oder einfach zum Laut-Lesen, wir interessieren uns für Stimmen, die sich aneinander reiben, sich widersprechen, entzweien, vielleicht versöhnen – in jedem Fall jedoch miteinander im Austausch stehen. Denn: Monologe bringen niemanden weiter. Und: auch ein gutes Selbstgespräch ist kein echter Dialog. Auf der Textebene sind unbefangene Begegnungen aber auch jetzt möglich.

In welchem Verhältnis stehen die Sprecher*innen zueinander? Sind sie greifbare Figuren oder bleiben sie vage Stimmen, über die wir kaum etwas erfahren? Welche Auswirkungen haben die Bedingungen, in denen das Gespräch stattfindet, auf seinen Verlauf? Und was drängt die Sprecher*innen dazu, sich Gehör zu verschaffen, gegenüber einer anderen Person, einer diffusen Öffentlichkeit oder einer konkreten Community?

Dramatische Texte enden nicht mit ihrer Niederschrift, sondern reichen über das Papier hinaus. Sie bleiben Material, ihre kommenden Zustände sind bereits in ihrer Entstehung mitgedacht – es ist ein Schreiben für andere Münder, für andere Köpfe, für unbekannte Räume. Aus diesem Grund möchten wir die Dialoge dieser Ausgabe auch hörbar machen.

Schickt uns eure unveröffentlichten Szenen, Minidramen, Hörspielsequenzen oder andere dialogische Textformen (max. zehn Seiten) bis zum 10. Januar 2021 an redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Call For Papers: Nachwendekinder

In der Diskussion um Wende und Wiedervereinigung melden sich heute – neben den »Wendekindern« – verstärkt auch die »Nachwendekinder« zu Wort. Sie spüren dabei oft einer Zeit nach, die sie selbst nie erfahren haben. Keine*r von ihnen hat den DDR-Alltag erlebt. Sie alle müssen sich das Land der Eltern und Großeltern aus Erzählungen, Filmen, Bildern, Artefakten und Klischees zusammensetzen. Zwar zählt man die »Nachwendekinder« aus dem Osten zur »Generation Einheit«, nach einer Allensbach-Studie aus dem September 2019 kann die aber kaum so genannt werden. Die Studie zeigt, dass die Generation immer noch in Ost und West geteilt ist.

Warum fühlt sich diese »Generation Einheit« immer noch Ost-West-Unterschieden ausgesetzt? Für die meisten ist die Einheit doch eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Warum also, so unsere These und Frage, besinnen sich so viele junge Menschen gerade auf ihre Ost-Herkunft? Warum ist Ostdeutschland für viele junge Autor*innen und Musiker*innen in den letzten Jahren ein so drängendes Thema geworden? #baseballschlägerjahre, #wirsindderosten, #derandereosten.

Wir möchten wissen: Wie denken die »Nachwendekinder« heute über den Osten – zu DDR-Zeiten und heute? Welche Auswirkungen sehen sie durch ihre kulturelle Prägung? Welche Erwartungen und Anklagen ergeben sich daraus? Wie divers sind die Stimmen? Und läuft die emotionale Bindung an diese Zeit nicht womöglich Gefahr, zu einer Verklärung der Geschichte beizutragen? Und was bedeutet das für die Deutsche Einheit, für die Debatte um Wende und Wiedervereinigung? Also, liebe Nachwendekinder, meldet euch zu Wort! Erzählt eure Geschichten! Schickt uns eure Texte bis zum 1. September 2020 an redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Kultur zu Hause

Die Pressemeldung Ende März war so schlicht wie kurz. Auch im Ausnahmezustand dürfe das sozial-kulturelle Leben nicht stillstehen, schrieb das Haus für Poesie auf seiner Website. Aufgrund der weltweiten Coronakrise habe man sich daher entschlossen, das 21. poesiefestival berlin online stattfinden zu lassen.

Seit der Meldung sind inzwischen gut zwei Monate vergangen. Man kann nur vermuten, wie viel Arbeit hinter den Veranstalter*innen liegt, wie viel Kreativität von ihnen und den Teilnehmer*innen gefragt war, um ein analoges Literaturfestival im virtuellen Raum stattfinden lassen zu können. Dass sich all die Arbeit gelohnt haben könnte, zeigt der Blick auf das Festivalprogramm. Rund 150 Autor*innen aus 29 Ländern werden vom 5. bis zum 11. Juni in über 100 Online-Events zoomen, hangouten, auftreten, lesen und diskutieren. Unter ihnen auch zahlreiche Künstler*innen aus Kanada, dem diesjährigen Gastland des Festivals. Bereits aufgezeichnete Formate wie die Berliner Rede zur Poesie von Anne Carson werden auf der Festivalseite abrufbar sein, Liveschalten zu den angegebenen Uhrzeiten online gehen.

Mit dabei sind auch dieses Jahr wieder altbewährte Formate. So wird die schöne Reihe der Poet’s Corner wieder einmal den Auftakt des Festivals bilden, wobei man sich dieses Mal eben nicht in den Bibliotheken, Bars und Literaturorten der Berliner Kieze treffen wird, um den dort lebenden Lyriker*innen zuzuhören, sondern von diesen per Home-Video mit Texten und Einblicken in ihre ganz persönliche Homestorys beliefert wird. Weiter geht es unter anderem mit dem VERSschmuggel, der in diesem Jahr kanadische und deutsche Lyriker*innen zusammenbringt und dessen virtuelle Version mit Splitscreens und Zoom-Ping-Pong mit Spannung erwartet werden darf. Auch das Format Weltklang – Nacht der Poesie, das integraler Bestandteil des poesiefestivals ist, und in dessen Rahmen neun Dichter*innen aus neun Ländern lesen werden, bleibt erhalten. Selbst der eigentlich am Festivalsonntag angedachte Lyrikmarkt wird digital zu besuchen sein, denn Lyrikverlage sowie Magazine stellen ihr Programm nun als Blogbeitrag oder Videobotschaft vor.

Das Podium zur Digitalen Poesie hingegen sollte die Verlagerung in den virtuellen Raum ohnehin kaum vor Probleme stellen. Moderiert von dem Autor und Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr werden hier Werke vorgestellt, die »digital-born« sind und denen die ausschließlich digitale Festivalform entgegenkommen dürfte.

Es ist erstaunlich, wie facettenreich sich das in so kurzer Zeit angepasste Programm des Festivals präsentiert: Kurzfilme, Podiumsdiskussionen, Poetry Yoga, Workshops, Performances sowie die Förderung für den poetischen Nachwuchs – die Liste ist lang. Das Jahr 2020 hat für uns alle einen besonderen Kontext geschaffen, in dem zwar viele Pläne verworfen werden mussten, aber auch viel Neues und Unerwartetes entstehen konnte. Solche neuen und aufregenden Antworten auf den herrschenden Ausnahmezustand präsentiert auch das poesiefestival mit viel Kreativität, Erfindungsreichtum und Fingerspitzengefühl. Man darf sich schon jetzt auf die Umsetzung freuen.

Call For Papers: Gehen

GEHEN, das heißt auch: flanieren, spazieren, sich treiben lassen, Umwege nehmen. Im Gehen zeigt sich die Kartographie unseres raumbezogenen Möglichkeitssinns. Als eine von den Umständen bedingte Praxis wird es im Gehen aber auch immer dort reizvoll, ja, gefährlich, wo den Gehenden Grenzen gesetzt werden: Wo Werbung, Straßenschilder, Mauern und Zäune unsere Gehgeschwindigkeiten bestimmen. Wo inmitten der Architektur unsere Emotionen geformt werden. Und wo zwischen den Rastern der Norm – von der Bordsteinkante bis zur Skyline – die Stadt aufscheint.

So lebensnotwendig wie unmöglich das Überschreiten solcher Barrieren manchmal ist, kann es oft nur auf Papier und Screens bewältigt werden. Hier wird die Imagination tum Protest: Wie sieht eure Kartographie der täglichen Gehmöglichkeiten aus? Wohin zieht es euch, wenn ihr flaniert, wenn ihr flext, wenn ihr die Routen des Alltags durch die Abweichung brecht? Wo ist der Ausgang, wo zeigt sich Widerstand? Wir wollen von euch lesen, wie ihr eure Umgebung sondiert, was ihr seht und nicht seht wenn ihr geht – und wie sich euer inneres Navigationsgerät als Kompass zum körpereigenen Word-Prozessor verhält.

Schickt uns, in literarisch, lyrisch oder essayistischer Form, eure Texte bis zum 1. Mai an redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Call For Papers: Horror

Grauen, das: der Alltag, die Grenze, das Bekannte, das Unverständliche, die Kernfamilie, die Kindheit, die Arbeit, der Weg nach Hause, das Verdrängte, das Begehrte, das Heimelige, die Eltern, die Freunde, die Kollegen. Angst, die: Sag mir, wovor du Angst hast, und ich sage dir, wer du bist. Sag mir, wovor du Angst hast, und ich sage dir, wo du stehst. Sag mir einfach, wovor du Angst hast.

Die nächste Ausgabe der metamorphosen widmet sich dem Horror: dem sublimen und dem drastischen Grauen, dem Genre-Grauen und dem experimentellen, dem gesellschaftlichen und individuellen Schrecken.

Wir fragen uns: Wer sind die lebenden Toten, heute, am Beginn des neuen Jahrtausends? Wer versteckt sich unter eurem Bett? Taugen Zombies überhaupt noch als Schreckensbringer und wenn nein, welche Alpträume, Angstträume und vor allem: welche Gruselgeschichten treiben uns heute um und aus dem Bett? Was muss ein Text eigentlich haben, um so richtig grausig zu sein, im dauerwachen Jahr 2020? Und gibt es eigentlich noch irgendwo Menschen, die nicht heimgesucht werden?

Schickt uns Horror und Ängste, in literarischer oder essayistischer Form, bis zum 01. Januar 2020 an redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Call For Papers: Utopien

Utopia – bei Thomas More war das noch eine ferne Insel. Ein Mann behauptet, diesen Ort ausgiebig bereist zu haben. Übersetzt man jedoch seinen griechischen Namen, Raphael Hythlodeus, dann weiß man, dass er entweder der größte Feind des Schwätzens ist – oder aber der größte aller Schwätzer. Doch schon bald waren sich andere Schreibende sicher, dass dieser beste Ort nicht auf dieser Welt zu finden ist, sondern höchstens in einer ihrer möglichen Zukünfte.

Wo liegt unser Utopia heute? Finden wir es nach dem systempolitischen Grauen des 20. Jahrhunderts nur noch im Partikularen und Privaten, eingerahmt von einem Kapitalismus, der keine großen Utopien braucht, ja, sich ihrer Überwindung gar rühmt? Wären Utopien heute also wichtiger denn je, gerade weil sie systemisch einen so schweren Stand haben und historisch so diskreditiert sind? Wenn ja, braucht es ein Update. Wie verhindern wir, dass die alten, totalitären Fehler wiederholt werden? Wie stellen wir sicher, dass es ums große Ganze, um eine gemeinschaftliche Vision geht? Denn ohne diese ist der Kampf um neue Utopien doch schon verloren – oder? Oder stecken sie etwa doch im kapitalistischen Hier und Jetzt, und die Linke ist ganz einfach blind geworden für sie? Die Literatur jedenfalls hat sich dabei schon viel zu lang herausgehalten und auf dem warnenden Exempel der totalitären Dystopie ausgeruht – oder ist das ein ungerechtes Urteil?

Was erzählen die neuen Utopien? Wie sieht das Leben in ihnen aus? Wer findet und bereist sie für uns? Wie viel Geschwätz, wie viel Ernst muss in ihnen stecken? Und nicht zuletzt: Welche Formen finden sie, um in einer veränderten Welt neue Wirksamkeit zu entfalten?

Schickt uns eure Berichte und kritischen oder utopischen Gedanken – in literarischer oder essayistischer Form – bis zum 15. August 2019 an redaktion@metamorphosen-magazin.de.

Wir Kanaillen

César Rendueles Kanaillen Kapitalismus. Eine literarische Reise durch die soziale Marktwirtschaft

Eine Rezension von Oliver Heidkamp

Seit seiner Jugend führte Ludwig XVI. Tagebuch. Neben der minutiösen Auflistung all der Tiere, die er während der von ihm hoch geschätzten Jagd erlegte sowie seiner vielen Audienzen und Krankheiten (darunter Verdauungsstörungen, Erkältungen und Hämorrhoiden), fand er dabei jedoch kaum Interesse für andere Dinge. An Tagen etwa, an denen er weder jagte noch krank war oder Audienzen gestattete, steht im Tagebuch lediglich der Vermerk »nichts«. So geschah laut Ludwig XVI. zum Beispiel auch an den wichtigen Tagen der Französischen Revolution: »Nichts.«
Geht es nach dem spanischen Soziologen César Rendueles, dann dürfte uns Ludwigs Desinteresse für gesellschaftliche Entwicklungen jedoch kaum Anlass für Empörung geben. Denn: »Wir alle sind wie Ludwig XVI. geworden«, meint Rendueles, «kurzsichtig und, was noch schlimmer ist, skeptisch hinsichtlich der für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse.« In seinem aktuellsten Buch prangert Rendueles mit diesem Vergleich unsere beschränkte Fähigkeit zur Veränderung der Wirklichkeit an. Mit Kanaillen–Kapitalismus. Eine literarische Reise durch die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft hat der Soziologe eine subjektive Literaturgeschichte des Kapitalismus geschrieben. Darin vermitteln möchte er auch eine Haltung, die eine mögliche Veränderung der kapitalistischen Gegenwart ermöglichen soll. Gelingt ihm das?
Kasinokapitalismus, Zeitarbeitsfirmen und transnationale Unternehmen seien für die kapitalistische Gesellschaft nicht mehr wegzudenken, so Rendueles. Daher will er uns Alternativen aufzeigen. Das geschieht im Buch nicht nur anhand von politischen, sozialen oder ökonomischen Beispielen, sondern auch durch ein Verfahren, mit dem Rendueles versucht, anhand von »Fragmenten der Fiktion die Spuren realer Prozesse zu rekonstruieren, die sich im LSD-Rausch des zeitgenössischen Kapitalismus verflüchtigt haben.« Er benutzt dabei literarische Werke einerseits, um eine skizzenhafte Betrachtung der Geschichte des Kapitalismus aufzuwerfen. Andererseits möchte er anhand der Literatur aber auch die fiktiven Kapazitäten der Leser anregen.
In sieben Kapiteln stellt Rendueles unterschiedliche Formen und historische Entwicklungen des Kapitalismus dar. Die Marktherrschaft und die Handelskonkurrenz der Gegenwart kontrastiert er beispielsweise mit Gesellschaften der Vergangenheit. Auffällig an diesen Gesellschaften ist, dass der Markt weniger unkontrolliert agieren konnte – etwa, weil Prahlerei verhöhnt wurde oder bestimmte Kulturen diejenigen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen oder sogar umgebracht haben, die sich über andere erhoben. »Der Gedanke, dass der Wettbewerb eine starke selbstzerstörerische Komponente besitzt und deshalb eingeschränkt werden muss, war ein grundlegender Bestandteil traditioneller gesellschaftlicher Ordnungen.«
Weit entfernt von neoliberalem Geist unserer Zeit, der die Märkte dereguliert und vormals staatliche Institutionen privatisiert, gab es strikte Regelwerke von festen Preisen oder institutionelle Aufträge, die keine Marktkonkurrenz zuließen. Wann änderte sich dies?
Die Anfänge der Marktgesellschaft und damit die Verbreitung der Geschäftsutopie beginnen im Europa des 10. Jahrhunderts. Aufgrund eines rapiden Bevölkerungswachstums fanden viele Menschen keine Arbeit in den Agrargesellschaften und streiften durch die Gegend, auf der Suche nach Almosen, nach Heeresdienst in Kriegszeiten oder nach Gelegenheiten für Raub und Plünderungen. Die »Kanaillen« waren Händler, die aus Schurken, Gaunern und Überlebenskünstlern bestanden.
Wie der Geist dieser »Kanaillen« schließlich in eine seltsame Symbiose mit dem Bürgertum tritt, bespricht Rendueles ausführlicher anhand des Bildungsromans Robinson Crusoe. Rendueles zeigt an Crusoe, wie die »Domestizierung der Gesellschaft durch den Markt im 18. Jahrhundert« stattfindet. Anstatt ein arbeitsames Leben als Geschäftsmann zu führen, bricht Crusoe aus, um Abenteuer zu erleben – und gründet in der Ferne eine Lebensform, die sich aus protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist zusammensetzt. »Lass uns Ultima Thule suchen gehen, vermittelt uns Robinson, eine neue Welt aus Gurkensandwich, Teegebäck und Beistelltischchen erwartet uns da draußen.«
Daneben werden im Buch auch vielseitige Alternativen zu einer marktkonformen Lebensweise aufgezeigt. Zum Beispiel die Idee eines solidarischen Miteinanders, das nicht geprägt ist von einem Nutzenverhältnis. Wo, fragt Rendueles, finden sich solche sozialen Beziehungen, wenn der Managerkampfgeist dominiert und auf die Anerkennung von Leistungen in allen sozialen Sphären pocht, von den Arbeits- bis zu den Liebesbeziehungen? Fündig wird Rendueles bei Doris Lessing. Ihr Buch Das Tagebuch der Jane Somers führt ein in das Leben der Karrieristin Jane, deren extravagantes und arbeitsames Leben durch die Bekanntschaft mit der pflegebedürftigen, einsamen Maudie eine entscheidende Wendung einnimmt. Ohne es zu müssen oder es sich selbst erklären zu können, übernimmt Jane die Pflege für die undankbare, mürrische Maudie. Für Rendueles ist das kein altruistisches Erweckungserlebnis, das eventuell von dem Gewinn gesellschaftlichen Ansehens motiviert wird. Vielmehr geht es bei Lessing um die »Entdeckung einer Verpflichtung,« die nicht auf einer unabhängigen Entscheidung beruht: »Es ist eine in der sozialen Ödnis unserer Gegenwart unverständliche Beziehung.«
Rendueles verfolgt in seiner literarischen Reise durch die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft viele Zwecke: so möchte er nicht nur die Entstehung des Arbeitsmarktes untersuchen und die Struktur politischer Konflikte, sondern auch den Ursprüngen der kapitalistischen Arbeitsorganisationen nachgehen, die eng mit Kolonialismus und Sklaverei verwoben sind und den Krisen und Legitimationsverlusten von Institutionen im 20. Jahrhundert näher auf den Grund gehen. In der Ausführung gelingt ihm all das dann aber auf eine eher sprunghafte, teilweise assoziative Weise, wobei manchmal der Überblick verloren geht zwischen Referenzen, die von der Pop- bis zur Hochkultur reichen. Und auch seine Literaturauswahl ist subjektiv. Weder lässt sich ein Weltliteraturkanon umreißen, noch sind die Betrachtungen aus literaturwissenschaftlicher Sicht solide. Darin liegt jedoch weniger ein Manko.
In der Besprechung von hauptsächlich männlichen Autoren kann ihm zudem der Vorwurf der weiblichen Unterrepräsentation gemacht werden. Neben dutzenden Autoren bespricht Rendueles nur zwei Werke von Autorinnen, und zwar Mary Shelley’s Frankenstein und Doris Lessings Roman. So wird eine patriarchalische Gesellschaftsstruktur nur gefestigt.
Der Reiz an Rendueles schmalem Buch liegt jedoch darin, dass er nicht versucht, oft begangene Wege abzuschreiten. Seine unkonventionelle Arbeitsweise erlaubt es ihm, formal zu experimentieren. Aus einer literarischen Recherche wird so ein mit persönlichen, urkomischen Anekdoten des Autors angereicherter Essay, die den bissig–sarkastischen, erkenntnisreichen Text, der sich – und durch den sich der Leser – antikapitalistisch positioniert, zu einer mehr als kurzweiligen Lektüre machen.