Schreibwerkstatt Prosa, HU Berlin

Rainald Goetz würde sagen: »Klar: daß man als Schreibender immer Sozialmönch, das heißt maximale Asozialität darstellt, daß man sich nie reality, immer nur Sprache, zu viel Ego, zu wenig Welt durch den Kopf zieht. Klar aber auch, daß man zur maximal sozialen Schreibwerkstatt der metamorphosen und Nocthene gehen kann, gehen will, gehen muss.«

Im April geht die Schreibwerkstatt der metamorphosen und Nocthene an der Humboldt-Universität Berlin in ihre zweite Runde. Es werden alle drei Wochen kurze bis mittellange Prosatexte verfasst und anschließend diskutiert und reflektiert. Die Schreibwerkstatt richtet sich an junge Schreibende. Es geht um Fragen des Stils, der Handlung, des guten Handwerks. Wir wollen wissen, warum gute Texte gut sind und wie man weniger gute Texte besser machen kann. Und warum es so schwierig ist, sich darauf zu einigen, was »gut« überhaupt heißt.

Die Nocthene ist eine literarische Plattform, die an den Universitäten in Düsseldorf, Freiburg und Berlin Schreibwerkstätten veranstaltet. Darin entstandene Texte werden regelmäßig im Nocthene-Magazin veröffentlicht. Die metamorphosen sind ein Berliner Literaturmagazin mit studentischer Redaktion. Das Magazin erscheint alle drei Monate im Berliner Verbrecher Verlag.

Wer Interesse hat, schickt uns eine E-Mail mit einer Textprobe im Anhang an berlin@nocthene.de. Bewerbungsschluss ist der 10. April. Die Teilnehmerzahl ist auf zwölf begrenzt.

Nochmal auf einen Blick:

Was? Schreibwerkstatt Prosa

Wo? Humboldt-Universität zu Berlin

Wann? Ab Montag, dem 24. April, alle drei Wochen, 17-20 Uhr

Wie viele? Teilnehmerzahl ist begrenzt auf 12

Und jetzt? Bewerbungsmail mit Textprobe bis einschließlich 10.4. an berlin@nocthene.de schicken

Die Erde ist eine Scheibe

Auszug aus 9 Notitzen über die Wahrheit 

von Stig Sæterbakken

1

London, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das erste Treffen zwischen John Hamish Watson und Sherlock Holmes, das in einem Krankenhauslabor stattfindet, wo Holmes die Tage mit – so heißt es – »planlosen und exzentrischen« Studien verbringt: Dr. Watson ist gerade aus Afghanistan heimgekehrt, um sich zu erholen, und die beiden werden einander am selben Tag von Watsons altem Studienkollegen Stamford vorgestellt, als es Holmes geglückt ist, nach unzähligen chemischen Versuchen einen Stoff herzustellen, der mit Hämoglobin und mit nichts anderem reagiert – laut dem triumphierenden Holmes die wichtigste rechtsmedizinische Entdeckung seit langem. Watson ist zu Beginn der legendären Freundschaft erstaunt  über das große Wissen seines künftigen Mitbewohners. Gleichzeitig ist er verblüfft, um nicht zu sagen schockiert, über die vielen ganz elementaren Wissenslücken bei den selbstverständlichen Dingen; was auf der Hand liegt, ist der enzyklopädische Ballast des Universalgenies. »Seine Ignoranz war so bemerkenswert wie sein Wissen«, notiert er in A Study in Scarlet. Unter anderem bemerkt Watson mit Erschrecken, dass Holmes nie von Kopernikus gehört hat und folglich keine Ahnung hat, dass die Erde um die Sonne kreist.

»But the solar system« I protested. »What the deuce is it to me?« he interrupted impatiently: »you say that we go round the sun. If we went round the moon it would not make a pennyworth of difference to me or to my work.«

Das ist umso bemerkenswerter, da Sherlock Holmes ja der Realist schlechthin ist, die Inkarnation des wissenschaftlichen Menschen, Fleisch und Blut des Rationalismus sozusagen. Gleichwohl sieht er über einige der grundlegenden Stücke der Allgemeinbildung einfach hinweg, ja, er lässt diese in manchen Fällen sogar von unhinterfragten Missverständnissen überdeckt und das, weil er so lange kein Bedürnis danach hatte, es anders zu betrachten. Während er alles, was in seinen Wirkungsbereich fällt mit knallhartem Wahrheitsanspruch bearbeitet, scheißt er auf das, was darüberhinausgeht. Der Sherlockholmsche Wahrheitsbegriff ist mit anderen Worten ausschließlich pragmatisch definiert. Die Wahrheit, das sind die Erkenntnisse über die Wirklichkeit, die du benötigst, um ein Ziel bei der Arbeit zu erreichen, in welche du dich gestürzt hast. Oder im übertragenen Sinn: das Leben, für das du dich entschieden hast oder zu dem du gezwungen bist. Alles andere kann dir egal sein. Anders ausgedrückt: Die Erde ist eine Scheibe. Bis zu dem Tag, an dem du dir etwas vornimmst, das Wissen darüber voraussetzt, dass es nicht so ist.

6

Wahrheit ist eine ökonomische Frage. Und Lügen sind wie Schulden: Je mehr davon da sind, desto weniger Interesse haben Leute daran, auf sie aufmerksam zu machen. Oder: Geliehenes Geld ist verdientes Geld, wie ein bekannter norwegischer Geschäftsmann schon zitiert wurde. Aufgrund eines unbezahlten Bußgeldes wegen Falschparkens über 350 Kronen wurde mein Hausrat einmal geschätzt; eine Forderung, die ich zu begleichen unterließ, indem ich eine endlose Korrespondenz mit der Verkehrsbehörde begann, in welcher ich dem einfachen Prinzip folgte, jeder neuen und im Ton verschärften Inkasso-Drohung mit einem neuen, noch schöner formulierten Brief zu antworten. Ja, ich brachte meine ganze Wortkunst auf (in einem der letzten Briefe zitierte ich William Blakes Proverbs of Hell), allein aus dem Gedanken heraus, dass sie, solange ihnen ein unbeantworteter Einspruch immer wieder aufs Neue vorliegt, die Angelegenheit nicht als abgeschlossen verbuchen und die Schulden einkassieren können, was etwas mehr als drei Jahre funktionierte, aber auch nicht länger.
Übrigens ein fantastisches Wort: Hausrat. Ich wusste nicht, dass ich so etwas hatte, bevor sie kamen, um ihn mir zu nehmen. Hausrat. Ich habe einen Hausrat. Was ist mein Hausrat? Das muss wohl das sein, was in meinem Haus ist. Ich wohne in etwas, ich wohne in dem, was mein Hausrat ist, und das wollen sie mir jetzt bis zu einem Wert von 350 Kronen – in der Zwischenzeit war der Wert wegen aufgelaufener Gebühren und Strafsteuern auf  2000 Kronen angewachsen – nehmen. Mit anderen Worten, mein Hausrat steigt im Wert, je länger ich mich weigere, das Bußgeld zu bezahlen. Ich dachte: Wenn ich lange genug warte, werde ich vielleicht reich?
Seither erlebte ich auch, wie das Finanzamt Verspätungsgebühren auf eine zu spät bezahlte Steuernachzahlung von mir einforderte, die geringer war als die Gebühr, die meine Schuld begleichen sollte; das war im selben Jahr als der norwegische Investor Thomas Øye, der zu der Zeit mit neuen Geschäften in Dubai befasst war, über seine Anwälte in Norwegen einem Vergleich mit seinen Gläubigern zustimmte, in dem sich diese mit 1,8 Mio. Kronen statt der rund 100 Mio., die Øye ihnen schuldete, zufrieden gaben. Die Moral von der Geschichte: Leih dir genug, schwindle dreist genug, setz ausreichend viel aufs Spiel, dann interessiert es nicht länger, ob du die Verantwortung für das alles übernimmst, denn jeder kleinste Gewinn ist besser, als alles zu verlieren, und ein wenig ist immer noch mehr als gar nichts.
Das Gesetz zeigt hier seine Qualität als Straßensperre: Alle kleinen Fahrzeuge werden angehalten, die schweren Wagen aber preschen einfach hindurch.
Das sind die wahrhaftigen Proportionen der Lüge. Wir leben nicht so sehr danach, was richtig und falsch ist, sondern danach, was sich zu einer bestimmten Zeit für uns lohnt. Mach, dass es sich für viele nicht lohnt die Lüge aufzudecken, und die Welt hält die Fresse.

8

Der Mythos vom Golem ist die frankensteinartige Erzählung der Juden von neuem Leben, das aus toter Materie geschaffen wird, in dem der Golem ein Mensch ist – oder ein Monster, aus Lehm gemacht –, der durch mit Hilfe Gottes durchgeführte magische Rituale lebendig und von einem damit betrauten Rabbi verstanden wird. (Die Tradition erachtet es als Zeichen von Weisheit und Heiligkeit, Macht über einen Golem zu besitzen, und im Mittelalter gibt es viele Beispiele von solchen Lehmmonstern, die mit berühmten Rabbinern in Verbindung gebracht werden.)
Es gibt diesen Mythos in vielen verschiedenen Versionen, wovon die bekannteste von dem Golem erzählt, der – so heißt es – von Rabbi Judah Loew ben Bezalel in Prag 1580 geschaffen worden war, um die Einwohner im jüdischen Viertel gegen antisemitische Angriffe zu schützen (was Gustav Meyrink als Grundlage für seinen berühmten Roman von 1915 diente), und in mehreren Versionen gibt es eine bestimmte Formel oder ein Wort, das Monster am Leben hält, sei es auf den Körper geschrieben oder als Zettel im Mund.
In einer Version ritzt der Rabbi das Wort EMET auf die Stirn des Golems. EMET ist das hebräische wort für Wahrheit. Also ist die Wahrheit das, was den Golem am Leben erhält. Wenn der Rabbi will, dass dessen Leben endet, entfernt er einfach den ersten Buchstaben, sodass nur noch MET da steht, was auf hebräisch tot bedeutet.
In dieser einfachen, aber fatalen Geste – das Wegwischen des E – kann man, wenn man will, eine grausame Pointe sehen. Denn vielleicht ist es so, dass uns das Ergebnis unserer Jagd nach Wahrheit allzu oft zum Tod der Wahrheit führt. Und dass wir vielleicht größere Chancen hätten sie zu finden, wenn wir stattdessen nach etwas anderem suchen würden.
Suche und du wirst nicht finden, heißt es. Eines der biblischen Merkmale der Werke des Teufels ist, dass sie eine Vermischung aus Lüge und Wahrheit sind, also dass der Teufel nicht notwendigerweise lügt, aber dass er lügt und über andere Wahres spricht, so dass das eine nicht zu trennen ist vom anderen. Meine Theorie darüber – falls es denn stimmt, dass es so ist – lautet, dass im Handeln des Teufels kein zynischer Wirkstoff steckt, sondern dass er, im Gegensatz zu Gott, ein Realist ist; das bedeutet, dass er die Welt und den Menschen so sieht, wie sie sind, und nicht so, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Dadurch dass Gott, der Ideologe, noch immer auf einer idealen Welt besteht, einer ideellen Schöpfung, hat der Teufel, der Realist, oder vielmehr der Naturalist, wie ihn Perrault nannte, schon lange die Doppeldeutigkeit aller Dinge, deren Zusammengesetztheit, Unreinheit und Mangel eingesehen.
So gesehen macht der Teufel genau das, was ein Schriftsteller macht: Er mischt die Wirklichkeit und die Fiktion auf solche Weise, dass man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden kann, um sich so, durch das Werk, einem präziseren Verständnis von – nein, nicht Wahrheit – von Wirklichkeit zu nähern.

9

Die extremste Form der Wahrheitssuche ist die Folter. Wenn wir von den Fällen absehen, in denen sie als reine Bestrafungsmaßnahme angewandt wurde, ist Folter ein Werkzeug mit klar definiertem Ziel, nämlich um Informationen aus Menschen herauszupressen, oder anders ausgedrückt: sie zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Folter, lange genug angewandt, die Opfer dazu bringt, alles mögliche zu gestehen, nur um weiteren Schmerzen zu entgehen. Es ist das fantastische Paradoxon der Folter, dass das, was eine Methode sein soll, die es Menschen unmöglich macht unwahr zu sprechen, in ihrer äußersten Konsequenz die Lüge als einzige Rettung bereithält.
Wenn ein Mensch glaubt, er kenne die Wahrheit oder sei im Begriff sie zu finden –, dann ist er am gefährlichsten. Und das ist der ultimative Triumph der Folter und ihre gleichzeitige Niederlage, da das Opfer dadurch bis zum äußersten Punkt gebracht wird, dorthin, wo er oder sie dem Peiniger alle möglichen Lügen erzählt, im Augenblick, bevor er oder sie den furchtbaren Schmerzen nachgibt und stirbt. Der Golem-Mythos erinnert uns daran, dass es lediglich ein einfacher Buchstabe ist, der die Wahrheit vom Tod trennt. Such die Wahrheit, und die Wahrheit stirbt. Such die Wahrheit noch stärker, such sie mit allen Mitteln, und der Mensch stirbt.

Aus dem Norwegischen von Karl Clemens Kübler