Wir brauchen mehr Idioten!

Byung-Chul Han: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken | von Marie-Luise Goldmann

„Facebook ist die Kirche, die globale Synagoge (wörtl. Versammlung) des Digitalen.“ Nur einen Pfarrer gibt es nicht. Unsere eigene Leitung und Ausbeutung übernehmen wir selbst.


Byung-Chul Han dagegen könnte dieser neue Wegweiser sein, der uns an die Hand nimmt, um uns die Welt zu zeigen, und uns auffordert, endlich zu verstehen. (In Hand steckt Han, würde er selbst jetzt anmerken. Und außerdem würde er darauf aufmerksam machen, dass Verstehen ein Stehen enthält, also ein Verweilen und Warten. Dem Verstehen entgegengesetzt ist das Erfahren, das in ständiger Fahrt und Eile voranschreitet, ohne innezuhalten.)

Das ist die Art, in der Byung-Chul Han Wörter tanzen lässt. Innehalten sollten wir tatsächlich, damit sein aktueller Essay Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken mit seiner geballten Brisanz, Cleverness und Fantasie nicht an uns vorbei rauscht.

Han, der an der Universität der Künste Berlin unterrichtende Starphilosoph der Gegenwart, untersucht in seinem, im letzten Oktober, erschienenen Buch die Tendenzen unserer Zeit. Dieses Mal sieht er jene in einer alle Lebensbereiche umfassenden, besonders vom Digitalen ausgehenden, Psychopolitik begründet. Nach der Lektüre von Müdigkeitsgesellschaft (2010), Transparenzgesellschaft (2012), und Im Schwarm: Ansichten des Digitalen (2013) kennt man zwar bereits die großen Thesen und die Richtung, in die Han immer wieder lenkt, sodass man sich mit Psychopolitik in kein neues Gedankengebäude einfinden muss. Und dennoch wird der Leser immer wieder überwältigt von den prägnanten Sätzen, cleveren Sprachspielen und wundersamen Etymologien. Nebenbei hat man bei der Lektüre von Han immer das Gefühl, ein besserer Mensch zu werden – ein romantischerer, geheimnisvollerer, schönerer. 


Alltäglichkeiten wie Facebook, Smartphones, Fitnessstudios und das Gegenwartstheater werden dabei von Han als Machttechniken des Neoliberalismus identifiziert, der die Fremdausbeutung zur Selbstausbeutung werden lasse. Aus der Biomacht sei eine Psychomacht geworden. Transparenz, Kontrolle, Emotion, Dataismus, Positivität, Selbstoptimierung, Überwachung, Ausbeutung und Gleichschaltung sind die zentralen Begriffe, die Han in seinem vielschichtigen Essay gegeneinander ausspielt und alle unter der Idee der Unterwerfung des Menschen durch die Psychopolitik vereint. 


Statt zu verurteilen, wie schlecht es heute ist, um zu loben, wie gut es früher war, bringt Han prägnante Gegensätze und Entwicklungen zur Sprache. Emotion sei etwas anderes als Gefühl, Statistik ein Kontrast zum Ereignis und die Addition der Narration entgegengesetzt. Je mehr wir Fakten aneinanderreihten, je mehr wir Informationen sammelten und Emotionen als bloße Affekte abriefen, desto mehr gingen uns Sinn und Geist abhanden. Wir verlernten die Kunst des Verknüpfens und Erzählens: „Die Krise der Gefühle (…) ist auch eine Krise der Erzählung.“

Han gelingt dabei ein Essay, der Experiment und Reise zugleich ist. Nicht alle seiner Gedankengänge mögen logisch schlüssig sein. Doch ist das gar nicht der Anspruch seiner Philosophie. Erkenntnis erwächst bei der Lektüre von Psychopolitik aus dem kindlichem Spiel mit Sprache, Ideen und Verbindungen: „Intelligenz bedeutet wählen zwischen (inter-le-gere). (…) Sie hat also keine wirklich freie Wahl, sondern eine Auswahl von Angeboten, die das System bereithält.“ So verortet er den Intelligenten in nur zwei knappen Sätzen (etymologisch) im Gefängnis – den Intelligenten, der zwar die richtige Wahl trifft, aber dabei immer nur im vorgegebenen System an Auswahlmöglichkeiten zurückbleibt. Gegen die Psychomacht, die aus dem Digitalen, aus Daten und Zählungen erwächst, schreibt er: „Big Data tritt heute nicht nur in Form von Big Brother, sondern auch von Big Deal auf.“, „Der digitus nähert sich dem phallus“, „Zählung ist nicht Erzählung“, „Der Dataismus erweist sich als digitaler Dadaismus“, „Motivation ist an Emotion gebunden. Die Motion verbindet sie.“ Sätze, die verblüffen, die einem geradezu ins Gesicht springen mit ihrer Klarheit und ästhetischen Plausibilität. 


Dass Byung-Chul Han ein Romantiker ist, der sich nach dem Alten sehnt und am Neuen nicht nur leidet, sondern auch vor der zwanghaften Leidvermeidung der gegenwärtigen Gesellschaft warnt, muss womöglich gar nicht mehr erwähnt werden. Doch neben dem sehnsüchtigen Trauern nach verlorenen Zeiten überwiegen Neugier und analytische Lust am Aktuellen. Facebook, Smartphones und Google Glass haben es verdient, von der Philosophie ernst genommen zu werden. 


Auch an Lösungen fehlt es Han nicht: Den Idioten lässt er als den Retter der Gegenwart auftreten, den Idioten, der allein Zugang zur Freiheit und zum Anderen hat. “Der Idiot”, so verfolgt Han sprachlich weiter,”ist ein Idiosynkrat. Die Idiosynkrasie bedeutet wörtlich eine eigentümliche Mischung der Körpersäfte und die daraus resultierende Überempfindlichkeit.” Der Idiot blockiere nämlich die beschleunigte Kommunikation des Gleichgewordenen, indem er als Nichtinformierter die wirklich freie Wahl hat. – Nicht nur die Auswahl des Intelligenten. Indem der Idiot das vorherrschende System der Intelligenz verlässt, „rette(…) (er) den Zauber des Außenseiters“, er „errichte(…) Freiräume des Schweigens, der Stille und der Einsamkeit, in denen es möglich ist, etwas zu sagen, das es wirklich verdient, gesagt zu werden.“ 


Dass der Experimental-Philosoph Han sich auf ein paar starke Thesen fixiert hat, die er immer wieder auf sämtliche Gegenwartsphänomene anwendet, stört letztendlich nicht. Vielmehr erregt es. Man denkt bei jedem Satz „Ja! Genau!“ und will jeden rausschreiben und sich an die Wand hängen. Da ist einer, der sich traut, auszuprobieren, und es dem Leser überlässt, sich auf sein Spiel einzulassen. Und doch ist es ihm Ernst damit. Spielerisch sollen wir wirklich Angst bekommen vor einer Welt, die blind ist für die Schönheit des Versteckens, des Verweilens und Verlierens.



Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken.
S. Fischer Verlag, Oktober 2014
128 Seiten, 19,99 Euro