#10 Nachtrag, Essay

Von Mäxchen, einem alten Franzosen und der politischen Durchschlagskraft einer grammatikalischen Geschlechtsumwandlung | von Lukas Valtin

Max hat starke politische Ansichten. Er findet zum Beispiel, dass der immer größer werdende Unterschied in der Verteilung der Einkommen und Vermögen das gesellschaftliche Klima vergiftet. Überhaupt findet er, dass wenig so läuft, wie es laufen könnte, wären die Leute ehrlicher zueinander und nicht so egoistisch, wären die Politiker ehrlicher zu den Leuten, könnten die Politiker ehrlicher zu den Leuten sein, weil diese einsähen, dass mehr Gerechtigkeit nun einmal auch Einbußen für manche heißt. Denn mehr Gerechtigkeit wollen doch die meisten, oder?

Weil Mäxchen aber das Gefühl hat, das verstehe außer ihm keiner und man müsse die Leute nur mal richtig wachrütteln, und weil Mäxchen sich gern Geschichten ausdenkt (das macht die Welt ein bisschen übersichtlicher und sinnvoller), und weil er gut mit Worten umgehen kann, beschließt er, einen Roman zu schreiben (in dieser Gattung kann man sehr schön zeigen, wie eines zum anderen kommt). Max ist ein bisschen gemütlich und gleichzeitig auch etwas überheblich, deshalb denkt er gar nicht wirklich daran, dass auch er, wenn er wollte, versuchen könnte, einen dieser Posten mit Verantwortung zu übernehmen, auf denen er an dem Problem mit der Ungerechtigkeit tatsächlich allgemeinverbindlich etwas ändern könnte oder zumindest die Chance dazu hätte (denn Max lebt heute, nicht vor 200 oder 100 Jahren). Diese Sphären scheinen ihm fern und unsympathisch. Man muss sich, denkt er, schon verstellen, um überhaupt Zutritt zu ihnen zu erlangen, man muss vor allem anderen leistungsbereit sein, und dann muss man viele Jahre lang so tun, als ob einen das Schicksal des Schreiadlers in der Uckermark interessiere oder, später dann vielleicht, wer der strategisch klügste Sündenbock dafür ist, dass ein neuer Flughafen immer noch nicht eröffnet aber viel teurer ist als geplant – und das, obwohl man selber vielleicht gar nicht davon überzeugt ist, dass dieser Neubau überhaupt nötig ist. Schon da geht es dann nur noch darum, für die Öffentlichkeit, oder einen bestimmten Teil dieser, einen möglichst plausiblen Charakter darzustellen, der nicht allzu komplizierte Dinge von sich gibt, aber dafür umso führungskompetenter wirkt. Nein, reine Zeitverschwendung, denkt er. Und schreibt.

Sein Thema ist größer, weniger eingegrenzt, aber grundlegender. Es betrifft die gesamte Gesellschaft, nicht nur einen kleinen Aspekt dieser oder ihrer alltäglichen Reibereien. In melancholischen Sprachbildern mit frostig pointierten Schlusssätzen macht er die Verlorenheit und Eiseskälte einer sozialen Unterschicht erfahrbar, in der seine Protagonistin gefangen ist, während die Leute am anderen Ende der Nahrungskette, mit denen sie immer wieder gezwungen ist in Interaktion zu treten, die größte heimliche Genugtuung dann erfahren, wenn sie – ein kleiner Twist in seiner Konstruktion – seine Hauptfigur aus freien Stücken behandeln, als sei sie eine vollkommen gleichberechtigte Mitbürgerin.

Mäxchen hat Glück. Sein Buch wird in einigen Feuilletons als ein „wuchtiges, politisches Statement“,ein „wütender Aufschrei voller Poesie und Sprachmacht“ gelobt. Und sogar ein wichtiger Politiker liest es und hält es im Plenarsaal in großer Runde hoch. Sichtlich bewegt sagt er: „Liebe Abgeordnete, lesen Sie dieses Buch und Sie werden wissen, was in diesem Land, heute, unsere oberste Priorität sein muss. Dieses Buch kann niemanden kalt lassen, der des Lesens mächtig ist.“ Einer der Abgeordneten schaut kurz etwas verwirrt auf, nickt, lächelt freundlich, blättert dann weiter in einem Dossier; noch hat er nicht ganz verstanden, was ihm sein brandenburgischer Landesvorsitzender da so Wichtiges über den Schreiadler zu sagen hat.

Max wird für sein Buch nicht inhaftiert und kann so auch nicht seine Haltung, seinen Mut, das Buch überhaupt geschrieben zu haben, öffentlichkeitswirksam als politische Aktion inszenieren. Die Macht gibt ihm ja Recht.

Max begeht auch keinen Tabubruch in einer von unterdrücktem Hass und Grabenkämpfen vergifteten Öffentlichkeit, der ihn zu einem enfant terrible der Literaturszene oder seine Autorpersona (nicht sein Werk) zu einer moralischen Instanz und Projektionsfläche für – neben anderen – politische Hoffnungen machen würde. Denn im Grunde geben ihm ja alle Recht: Eine ungerechte Gesellschaft ist schlecht und macht traurig, eine gerechte ist sehr erstrebenswert. Niemand will mehr Krieg, Zwangssozialismus oder Unterdrückung, niemand will sich mehr schuldig machen, an Minderheiten vergehen. Niemand will, dass die Verhältnisse so sind, wie sie im Buch von Max dargestellt sind. Sie nicken oder schütteln den Kopf, sind aber einer Meinung. (Und deshalb leben wir auch in einer Demokratie, in der jeder wählen gehen und einen Verein gründen kann, sagen sie. Und, schnell hinterher, weil sie es sonst wieder vergessen: Beim nächsten Mal, in drei oder vier Jahren, wähle ich sicherlich eine Partei, für die soziale Gerechtigkeit einer der obersten Prioritäten ist…)

Mäxchens Buch ist also vollkommen überflüssig; zumindest bringt es nicht Neues in die Welt. Im Laufe der Zeit, nachdem der erste kleine Ruhm verblasst ist und niemand mehr von seinem Werk spricht, wird ihm dies klar.

Einige Zeit lang ist er depressiv deshalb. Dann beginnt er, von Neuem über alles nachzudenken. Denn er will schreiben (so viele andere haben es vor ihm getan, warum soll er es nicht dürfen?) und gleichzeitig will er sich mit der Gesellschaft auseinandersetzen, denn es gibt nichts Spannenderes für ihn. Was ist denn eigentlich das Politische, fragt er sich. (Heute, setzt er in Gedanken hinzu.) Denn er ahnt, dass es damit etwas anderes auf sich haben muss, als er bisher angenommen hat.

Neben viel Blabla, das ihn nicht weiterbringt (Ingo Schulze sagt beispielsweise in den metamorphosen 40: „Alles ist politisch!“. Also ist es nichts, denkt Max und blättert weiter), liest er auch Jacques Rancière. Das ist schwierig und er schläft erstmal eine Weile. Erst versteht er nicht, worauf der alte Franzose hinaus will, aber dann machen mehr und mehr Sätze Sinn, treten aus dem Nebel poststrukturalistischer Syntax und Vokabeln hervor. Was andere als Politik bezeichnen (z.B. die Tageszeitungen oder die meisten anderen Theoretiker), also LA politique, bezeichnet Rancière als Polizei. Ohne Uniform und Gummiknüppel. Sie ist

„die Gesamtheit der Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen“.

Die Gesamtheit der Vorgänge…

Die Polizei etabliere eine Aufteilung des Sinnlichen, bei der eine

„völlige Übereinstimmung von Funktionen, Plätzen und Seinsweisen“,

eine eindeutige Zuteilung von

„Arten des Seins, des Handelns und des Redens“,

die einander eindeutig zugeordnet seien, herrsche, und die keinen Platz für Leerstellen und den – Max stockt – Anteil der Anteillosen lasse.

Der Anteil der Anteillosen… Max ist wieder wach.

Sie, die Polizei, basiere auf der dichotomischen Einteilung der Subjekte einer Gemeinschaft in Superiore (die handeln) und Inferiore (an denen gehandelt wird), sie bringe

„Gruppen als Inhaber verschiedener Interessen zueinander in Opposition“.

Es gebe für die unter ihr Lebenden bessere und schlechtere Polizeien, doch sie könne niemals Politik sein.

Und was ist dann Politik? Das Politische, LE politique? Max blättert weiter.

Die Politik, wie Rancière sie will, stört die Ordnung der Polizei, indem sie in die Aufteilung des Sinnlichen eingreift und dessen Neuverteilung vornimmt.

Die Aufteilung des Sinnlichen… Manche Arten von Hör- oder Sehbarkeit – Max liest immer schneller – von Gehört- und Gesehenwerden, seien für einige zugänglich, für andere nicht: das Sinnliche werde aufgeteilt. Das Wort partage im französischsprachigen Originalterminus schließe dabei, neben der Aufteilung, auch die vorherige Ein-oder Unterteilungdes Sinnlichen ein.

Politik ist also nicht politisch. Denkt Max und lässt den Satz wirken. Der Schreiadler, zumindest, wenn er als Dossier durchs Parlament flattert, ist nicht politisch. Ein Buch, das Kritik äußert, der jeder abends beim Tee oder vor einer Nachrichtenfernsehkamera zustimmen kann, ist nicht politisch.

Für Rancière ist dieses Konzept scheinbar, verknüpft Max nun, zu geistigen Höhenflügen angestachelt, das Mittel zur Beantwortung einer transzendentalen Fragestellung (wie auch bspw. bei Foucault und Kant, wie er sich vage erinnert): Welche Bedingungen müssen a priori überhaupt erst einmal erfüllt sein, damit x oder y, hier also: die Politik im traditionellen Sinne, in dieser Form möglich ist? Das Sinnliche muss eine ganz bestimmte Aufteilung erfahren haben. Und bei diesen Bedingungen, dieser Aufteilung, schließt Max, soll das Politische, wie Rancière es will, dann ansetzen und, ja, auf sie Einfluss zu nehmen versuchen.

Mäxchen atmet heftig und sitzt eine Weile mit aufgerissenen Augen am Schreibtisch. Die Aufteilung des Sinnlichen angreifen, denkt er und schreibt dann in einer Nacht, ohne Pause, sodass seine Knie am Morgen steif sind, einen Text, in dem eine Schildkröte als Beiträgerin auf einem kulturwissenschaftlichen Symposium auf Kanak Sprak mit mittelhochdeutschen Versatzstücken über sechseckig schmeckende Grashalme, den hornigen Hintern ihrer Schildkrötenfrau, der sich himmelblau anfühlt und wunderbar rund riecht, und über das Innere ihres Panzers, das nur sie selbst je zu Gesicht bekommen hat, monologisiert.

Der Text kommt nicht so gut an. Man wundert sich. Man findet den Text „naiv“, verurteilt ihn als „ästhetische Spielerei“, ihm liege „eine schöne Idee zu Grunde aber es fehle das gesellschaftliche Fleisch“. Der Verlag lehnt ihn ab, an einem Nachfolger nach Art seines Erfolgsdebüts sei man aber interessiert, lässt man ihn wissen. Auch bei Wettbewerben und von Zeitschriften wird er nicht beachtet. Lediglich ein Freund und Namensvetter von Mäxchen, Max Dorb, findet Gefallen an dem Text und bewegt einen Verlegerfreund, Wolf Kurtt, dazu, den Text in eine kleine Anthologie aufzunehmen.

Mäxchen überlegt, ob er sich ein Pseudonym zulegen soll, um den Bruch in seinem Werk klar auszustellen. Vielleicht irgendetwas mit osteuropäischem Anklang, das fand er schon immer reizvoll. Tschechisch, vielleicht.

Irgendwann morgens in der Dusche überlegt er, was wohl wäre, wenn es nicht einfach eine Schildkröte wäre, die da monologisiere, sondern wenn ein Protagonist eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachen und sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer, oder Ungetier, also ebenjener Schildkröte, verwandelt fände und dann begänne, zu monologisieren…
Aber an dieser Stelle lassen wir Mäxchen in Ruhe.

Et la morale de cette histoire ranciérienne: Politische Literatur (heute) braucht ebenso politische Leser. Leser, die bereit sind, das Politische in ihr aufzuspüren. Keine Zeitungsleser.