Der unwissende Lehrmeister

Zu Christian Krachts Roman Die Toten, dem Unterschied zwischen Meinungen und Haltungen und einer lernfähigen Literaturkritik

von Lukas Valtin

Anfang September 2016 ist etwas Bemerkenswertes geschehen. Es geschieht noch immer. Inmitten fliegender Fetzen gesellschaftlicher Kommunikation wagt eine kleine, elitäre Gruppe die stille Revolution. Was von dieser Runde des publizistischen Kommentars zu Christian Krachts neuem Roman Die Toten überdauern wird, ist diesmal nicht der polemische, der Goldenen Himbeere der Literaturkritik würdige »rsteher rechten Gedankenguts« (Diez 2012 zu Imperium etc.), sondern das Wort vom großen »Oszillieren« und dazu der sanfte Appell: »Bitte oszillieren Sie.« (Rabe, ddeutsche). Und dann lässt Kracht auch noch seinen Erzähler dieses Wort selbst benutzen: Eine der Hauptfiguren vernimmt, im magisch anmutenden Moment, bevor das Meer ihn verschluckt, »wie von fern, ein versunkenes Oszillieren, es ist das scheue, modulierte Fiepen der Meeressäugetiere, die sich über unendlich weite Strecken hinweg im Ozean zusingen.«

Womit wir mittendrin wären in einer der Diskussionen, die sich 2012 an Imperium und an Diez’ Kritik entzündet hat: Soll man nun und darf man nun Autor und Erzähler oder gar Figuren gleichstellen, Aussagen des einen auf den bzw. die anderen projizieren? Und was ist mit Aussagen, die der Text als solcher in irgendeiner Form zeitigt, darf man den Autor für diese in Haft nehmen? Das Spektrum der Antworten nicht die Antworten selbst! »oszillierte« dabei zwischen einem triumphierend-gehässigen »Natürlich!«, einem knöchern-schmallippigen »Niemals!« und einem inkonsequent-ratlosen »Naja-vielleicht-ja-doch-ein-bisschen«.

Beim Lesen des neuen Romans ertappt man sich nun bei der Frage: Angenommen man wüsste nicht, dass der Text, den man in den Händen hält, von Kracht stammt, wäre man dann von jedem einzelnen Satz gebannt, würde man jede Seite mit dem Ruf »Meisterwerk!« auf den Lippen umblättern? Vermutlich nur, wenn man debil genug ist, um dieses Wort überhaupt die ganze Zeit benutzen zu müssen. Denn, diese Erkenntnis folgt auf dem Fuß, das ist ganz einfach die falsche Frage und, noch dazu hypothetisch gestellt, Heuchelei. Man kann Krachts Autorpersona nicht mehr von seinem Werk und auch die vorherigen Bücher nicht vom neuen Roman trennen. Niemand weiß das besser als Kracht selbst. Alles andere wäre eine romantisierte Fetischisierung dessen, was »geschrieben steht« – und die ist auch in ganz anderen Bereichen menschlicher Kultur nicht besonders hilfreich, also warum sollte sie es hier sein? Die Lektüre von Die Toten ist von den Vorgängerromanen und der Debatte um sie, auch von den Zeitungs- und Fernsehinterviews, von Facebook-Posts und Fotografien eingefärbt. Man weiß, bevor man das Buch aufgeschlagen hat: Man liest hier Kracht, einen Teil des Gesamtkunstwerkes, das seinen Namen trägt. Und es liegt nunmal in unserer Natur, dass wir insgeheim wissen wollen, wie der Mann, der Kopf, hinter all dem tickt.

Eine Haltung ist verletzlicher als eine Meinung

Denn wir spüren in Kunstwerken einer Haltung (gegenüber der Welt, dem Leben, der Gesellschaft) nach und versuchen, eine solche zu finden, die wir für gut und richtig befinden, die uns beeindruckt oder die gar mit unserer eigenen resoniert. Letztendlich ist doch das der Grund, warum Menschen in ihrer Freizeit freiwillig zu erzählender Literatur greifen. Nur ist eine Haltung etwas ganz anderes, komplexeres und vor allem verletzlicheres als eine Meinung. Denn auch wenn Kracht mit seiner Kunst keine eindeutigen Meinungen über alles und jeden in die Welt hinausposaunt, sondern diese viel eher in sich selbst zusammenfallen lässt, galoppiert seine Literatur nicht einfach der Belustigung willen wie ein gedoptes Rennpferd um ein leeres Zentrum herum. Es geht ihr darum, eine gewisse Haltung auszuloten und ihr einen Raum in der Welt zu geben.

Weshalb hier auch noch mit keinem Wort die Rede war von der eigentlichen Handlung des Romans, denn die ist Verzeihung zweitrangig, lediglich eine Variable auf der Suche nach einer ästhetischen Haltung (und, wenn nicht im Roman selbst, bereits in zahllosen Rezensionen nachzulesen). Auch die Figuren besetzen eher bestimmte Positionen in einer großen Versuchsanordnung als dass sie tatsächlich konkret sich selbst repräsentieren würden, sind Namen und Charakteristika auch beinahe sämtlich der Realität entnommen.

Was die Erzählerstimme angeht, knüpft Die Toten an Imperium an – was schön ist, denn sie war die eigentliche Hauptfigur des letzten Romans und ihr Potential, letztlich erhellende Irritationen auszulösen, noch lange nicht ausgeschöpft. Also wieder die manierierte, mit einer Menge kulturellem Selbstbewusstsein aufgeladene Thomas-Mann-Persiflage, durchmischt allerdings mit Nabokov und vielleicht Kästner sowie einem Hang zu comichaftem Slapstick und groteskem Humor. Das ganze entgleist regelmäßig, schlägt über die Stränge oder greift arg daneben und ist insgesamt, vor allem im immer wieder überraschenden Wechsel und Überschneiden dem »Oszillieren« – dieser verschiedenen Register, ganz einfach sehr unterhaltsam. Das flutscht.

Und das ist wichtig. Denn nicht umsonst spielt auch in diesem Roman wieder das Medium Film eine große Rolle. In Imperium drohte der Film dem Roman seine Geschichte streitig zu machen eine narrative Volte zu Ende ließ die Frage aufkommen, was denn das ursprüngliche Medium sei, in dem die Geschichte erzählt werde und welche mit ihr verbundene Ästhetik denn nun dominiere: Sprache oder Film?

Hommage an den Film – Kampf gegen den Film

Die Toten ist nun zwar eine Hommage an den Film, es ist aber auch ein weiterer Akt der Sabotage im Widerstand gegen die Übermacht des Mediums Film und die Deutungshoheit der Bilder. Das ist keine Literatur aus Verlegenheit, auch wenn Kracht im obligatorischen Interview mit Denis Scheck kokettiert, er könne eben einfach keine Filme machen, nur deshalb schreibe er. Nicht umsonst wird hier vor allem dem Stummfilm gehuldigt. Vielleicht hatten wir alle Filmemacher, Schreibende, Lesende, Sehende, und sogar Radiomacher und ihre Zuhörer – mehr vom jeweiligen Medium, als es noch nicht zusammen mit den anderen in einem einzigen, dem Tonfilm, zusammengefasst und die künstlerische Aussagekraft von diesem monopolisiert und normiert war. Und vielleicht meint Kracht das damit, wenn er im Interview in der ZEIT sagt, er sei ein großer Nostalgiker. Weil geht so der Gedanke? im erzwungenen und eigenständigen imaginativen Ergänzen der fehlenden Dimensionen des reinen Textes, des reinen Bildes, des reinen Tones dasjenige Erhabene, diejenige Transzendenz zu finden ist, die uns heute abhanden gekommen ist? (Dieses Schlagwort leihen wir uns aus besagtem Vorabinterview mit Ijoma Mangold, der nunmal einer der wenigen Feuilletonisten zu sein scheint, die das Zwingende in Krachts Werk erspüren und in Worte fassen können, weshalb die etwas nepotistische Umgehung der Sperrfrist, über die sich natürlich ereifert wurdewen interessiert’s.)

Versucht man, eine solche Transzendenzerfahrung heute auf diesem Wege zu erleben, muss man sich in die Nische begeben an die 100 Jahre alte Stummfilme schauen, Lyrik lesen, Bach hören und entkommt gerade deshalb der übergroßen Leitkultur, der des farbigen Tonfilms, nicht einen Zentimeter. In dieser ist ein Stumm-, selbst ein Schwarz-Weiß-Film eben eine Kuriosität, eine Anomalie, finden die meisten Lyrik anstrengend und nichtssagend, außer sie evoziert interessante Bilder, und wurde die Aria der Goldberg-Variationen in unzähligen Filmen als Hintergrundmusik missbraucht. Manche Schriftsteller ignorieren das einfach und verschwinden auf ewig in besagter Nische. Oder sie passen sich, meist wohl unbewusst, an, inklusive der unkontrollierbaren, multimedialen Inszenierung der eigenen Person. Filmisch Schreibenwie stark seit dem Siegeszug des Filmes der Einfluss filmischer Ästhetik auf die Literatur ist, das überhaupt zu erfassen, ist uns wahrscheinlich unmöglich.

Und Kracht? Versucht, den Mittelweg zu finden und sich auf diesem, der nur ein schmaler Grat ist, zu halten. Er ist weder bereit, in der Versenkung zu verschwinden, sich aus der Gesellschaft zurückzuziehen und mantraartig auf den heiligen Wahrheitsgehalt von unter großen Entbehrungen abgerungenem Schwarz auf Weiß zu pochen, den sich der Leser bitteschön unter nur geringfügig geringeren Anstrengungen, in Askese gewissermaßen, erarbeiten muss. Noch ist er bereit, sich von diesem Leitmedium Film diktieren zu lassen, wie ein guter Roman geschrieben zu sein hat. Und trotzdem weiß er: Um überhaupt außerhalb der Nische wahrgenommen zu werden d.h., ja, breitenwirksame, populäre Literatur zu schreiben , muss man gegenüber der Macht dieses Leitmediums Zugeständnisse machen; auch seinen Vermarktungsstrategien. Und ganz nebenbei kann das ja auch ein großer Spaß sein, wenn man sich ebendas zum Kopieren herauspickt, was dieses Leitmedium so unschlagbar gut kann: fesseln, unterhalten, süchtig machen.

Steht dieses Gerüst, kann die eigentliche Arbeit beginnen: Der Literatur abringen, mehr als ein defizitärer Abklatsch eines unterhaltsamen Filmes zu sein. In diese unvermeidlichen, harten Schalen aus Popkultur einen Kern hineinpflanzen von etwas, das wieder über sich selbst hinausweisen kann; vielleicht, ja, nach oben, zu einem höheren Ganzen, das uns womöglich nur abhanden gekommen aber trotzdem, schaut oder besser liest man auf die richtige Art und Weise hin, noch zu finden ist. Dass diese Sehnsucht natürlich leicht kippen, auf dem Weg zu ihrer Erfüllung grausame Wege eingeschlagen, vermeintliche Transzendenz künstlich hergestellt und erzwungen werden können das erzählt dieser Roman immer gleich mit, er kann nicht anders, und nur alles andere wäre wahrlich verwerflich. Und trotzdem, sagt er, soll man die Suche nicht aufgeben.

Innehalten, Oszillieren

Wo und ob überhaupt dieses Transzendente in Krachts neuem Roman tatsächlich zu finden ist, wird jeder selbst herausfinden müssen. Hier nur ein Vorschlag: Ein hochgradig nervöser, alternder Regisseur, der von einer faschistischen Macht überredet wird, für viel Geld nach Japan zu reisen und einen Gruselfilm zu drehen, letztendlich jedoch seine eigene Freundin durch ein Loch in der Wand dabei filmt, wie sie ihn mit einem Ministerialbeamten dieser anderen faschistischen Macht betrügt, daraufhin seinen eigentlichen Auftrag verwirft, die Kamera stattdessen durch dieses fremde Land trägt, Eindrücke von Bäuerinnen und Bambusfeldern einfängt, so weit in die Natur eintaucht, dass ihm eine »Fuchsfamilie mehrere Tage lang in sicherem Abstand« folgt, anschließend durch Zufall dort im fernen Osten auf eine »Kammer der Erinnerung« stößt, in der repräsentative europäische Kulturgüter museal nebeneinander ausgestellt sind, die er mit »langsamer, ruhiger Hand« abfilmt, auf diese Art und Weise schließlich doch einen Film dreht, aber einen völlig anderen, als den ursprünglich geplanten Schema-F-Streifen, schließlich allein, aber mit einem Film, auf den er stolz ist, und zudem innerlich ausgesöhnt in seine Heimat zurückkehrt das ist natürlich großer, ironisierter Kitsch. Aber gerade weil dieser Kitsch zwar gebrochen dargestellt, die Möglichkeit der Wahrhaftigkeit seiner Inhalte aber trotzdem nicht aufgegeben wird, zerreißt es einem doch auch das Herz.

Beim französischen Philosophen Jacques Rancière gibt es die Figur des unwissenden Lehrmeisters: Er hat keine Antworten und kein Programm, aber er befähigt seine Zöglinge dazu, diese selbst zu finden, jeder für sich. Vergleicht man die hitzige Debatte um Imperium mit dem Gros der Beiträge zu Die Toten, bekommt man fast den Eindruck, gerade Christian Kracht könnte diesen Titel nun, auf verschlungenen Pfaden, verdient haben. Die Polemiker, die sich noch vor vier Jahren eine erbitterte Schlacht um die Deutungshoheit der vermeintlich kontroversen Inhalte lieferten, halten inne, betrachten das große Bild und reden von Transzendenz und Oszillieren. Dass diese Entwicklung sich diametral zu jener der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation vollzieht, kann dabei nun Verschiedenes bedeuten. Aber belassen wir es hier zunächst einmal bei einem: Gut so!