Eine andere Geschichte. Der neue Roman von Christian Kracht

von Oliver Heidkamp

Nonchalant und gelegentlich belanglos kommen die Dinge im neuen Roman Eurotrash von Christian Kracht daher. Ganz nebenbei jedoch erfüllen Krachts federleichte Sätze die Gegenwart mit dem Sound einer verdorbenen Vergangenheit, die in das Leben des Schriftstellers, seiner sozialen Herkunft sowie seiner eng mit dem Nationalsozialismus verwickelten Familie radikalen Einblick zu verschaffen vorgibt. Anstatt jedoch bloßen Voyeurismus zu bedienen, legt der Autor Stolpersteine, die alte Vorwürfe aufgreifen und als Irritation zurückbleiben.

Die Fortsetzung

Mit dem neuen Werk schließt der Autor an sein 1995 veröffentlichtes Debüt Faserland an, wie der Ich-Erzähler gleich zu Beginn erwähnt, wenn er in Zürich stehend von dem »relativ traumatisch[en]« Ende dieses Romans erzählt. In diesem Roadnovel, die Quelle der Faszination um den Autor Kracht, unternimmt jener mitunter kühle, wohlhabende, verlorene, stets maßlos betrunkene Ich-Erzähler – »Lust und Selbstzerstörung liegen nah beieinander« (S. 86) – von Sylt zum Zürichsee eine melancholisch-düstere Reise durch Deutschland, und faselt stets unzuverlässig daher. Entgegen dieser scheinbaren Belanglosigkeit legt der Romantitel eine Tiefenstruktur frei: Erstens impliziert er, dass Deutschland aus Fasern besteht, also dem Stoff, aus dem sich ein Text (lat. textus: Gewebe, Geflecht) zusammensetzt, eine Geschichte, die der Roman erzählen will. Zweitens ist er eine intertextuelle Anspielung auf den 1992 erschienenen, kontrafaktischen Detektivroman Fatherland von Robert Harris und legt wie dieser nahe, dass der Nazismus in der deutschen Gegenwart fortbesteht, den Text mitschreibt.

Der Nationalsozialismus ist im neuen Buch ebenfalls präsent. Anders als im Erstling jedoch, in dem der Erzähler namenlos blieb, wird dem Ich-Erzähler aus Eurotrash, der nicht durch Deutschland, sondern mit seiner Mutter durch die Schweiz reist, eine scheinbar eindeutige Identität zugewiesen. Er trägt den Namen des Autors, hat ebenfalls ein Vierteljahrhundert zuvor einen Roman unter dem Titel Faserland geschrieben und der Vater des Erzählers, Christian Kracht (senior), war, wie der echte Vater, der enge Mitarbeiter und Verlagsmanager Axel Springers.

Die biografische Deckung von Autor und Erzähler ist zunächst bemerkenswert, denn es handelt sich immerhin um jenen ewig abwesenden, in L.A., Nepal, Buenos Aires oder sonst wo auf der Welt lebenden Autor, der mit einer geheimen Lust das Versteckspiel um die eigene Person aufbauscht. Einmal hat er beispielsweise behauptet, in »Argentinien in die Politik zu gehen, in den Neo-Peronismus. Die Falkland-Inseln befreien.« Ein Dickicht aus Andeutungen und Anspielungen führte dazu, das scheinbar kaum etwas mit Sicherheit über ihn gesagt werden kann, weil die ohnehin öffentlichkeitsscheue Person dahinter nicht mehr zu erkennen ist.

Nazis & Kracht

Jenes vertrackte Versteckspiel des Autors hat als Motiv sogar eine eigene Bezeichnung erhalten: der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher nennt das von Nähe und Distanz geprägte Schreiben Krachts ein »omnipräsentes Verschwinden«, das zur Mystifizierung des Autors führte, vermutlich aber auch mitverantwortlich an einem regelrechten Literaturskandal war, als 2012 der Roman Imperium von Kracht veröffentlicht wurde, der den deutschen Kolonialismus in den Blick nahm. Damals wartete der damalige Spiegel-Redakteur Georg Diez mit einer wuchtigen Rezension auf, die den Autor als »Türöffner rechten Gedankenguts« bezichtigte. Diez las den Roman einerseits im Kontext von Krachts anderen Schriften und verwies insbesondere auf 5 Years, einen seltsamen Briefwechsel mit dem kanadischen Künstler David Woodard, dem Kracht einen ausgeklügelten Umgang mit den eigenen rechten Ideen attestierte – ein Anzeichen für Diez, dass Kracht jenen Ideen ebenfalls nicht fern stehe. Um den Verdacht rechter Gesinnung zu schärfen, legte die Rezension eine Gleichsetzung von Autor und Erzähler nahe, um vermeintlich rechte Denkstrukturen erkennbar werden zu lassen. Dieser Vorwurf wurde von der überwiegenden Mehrheit des Literaturbetriebs als haltlose Unterstellung, als Rufmord, kritisiert und einige Autor*innen, wie Elfriede Jelinek oder Daniel Kehlmann, sahen sich veranlasst, Krachts erzählerisches Vorgehen in einem offenen Brief zu verteidigen. Vergessen ist dieser Vorfall jedoch nicht. Kracht selbst provoziert im neuen Roman eine erneute Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Autor und Erzähler sowie Nationalsozialismus und Gegenwart.

Vor dem Hintergrund von Diez’ Verunglimpfung nämlich erscheint es als Herausforderung zum kritischen Lesen, wenn Kracht mit Eurotrash diese Verwechslung von Autor und Erzähler regelrecht intendiert. Und dieser Eindruck wird auch nicht dadurch gelindert, dass die in Eurotrash angestrebte, scheinbar ungebrochene Identifikation von Autor und Erzähler in die literarische Gattung »Roman« eingebettet ist, also eine fiktionalisierte Geschichte erzählt, und keine detailgetreue Biografie. Die Dialektik von Wirklichkeit und Fiktion, Autor und Erzähler, wird vielmehr den ganzen Roman hindurch aufrechterhalten.

Der Roman beginnt damit, dass der Erzähler Kracht allein durch das nächtliche, von »geldgierigen Oberleutnants und selbstherrlichen Strizzis« bevölkerte Zürich läuft und später, im Hotelzimmer liegend und mit den Gedanken bei der verwahrlosten Mutter, die er besuchen möchte, seine Kindheitserinnerungen durchstreift. Hier, wie auch in Krachts anderen, den großen Ismen wie Kommunismus (Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten), Imperialismus (Imperium) und Nationalsozialismus (Die Toten, Faserland) nachspürenden Werken, wird das faschistische und antisemitische Deutschland literarisch bearbeitet, und zwar, indem der Erzähler Einblicke in die Familiengeschichte mütterlicherseits gewährt. So etwa, wenn er von den sadomasochistischen Träumereien des Großvaters berichtet, der eine steile Karriere als Untersturmführer der SS sowie in der Reichspropagandaleitung der NSDAP hingelegt hat und trotz Entnazifizierung im britischen Internierungslager Delmenhorst-Adelheide im Haus auf Sylt weiterhin seinen rechtsnational gesinnten Ideen frönt. Zusammen mit dem isländischen Au-pair-Mädchen studiert der Großvater das nordische Alphabet, »in dem die deutschen Statthalter der nordischen Rasse die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit lesen konnten«, und erforscht sonstige rechte Verschwörungstheorien bzw. Pseudowissenschaften. Nebenbei sehnt sich der Großvater, wie die nach dessen Tod aufgefundene Sammlung erotischer Utensilien den Erzähler vermuten lässt, nach sexuellen Ausschweifungen mit eben jenem isländischen Mädchen. Diese Schilderungen sind geprägt von Komik, wenn etwa die Fantasie mit dem Erzähler durchgeht und er sich vorstellt, wie Sigríðr, das Au-pair, den Großvater mit Stacheldraht an ein Tischbein fesselt und ihm lüsterne Dinge zuflüstert.

Es gibt aber auch weniger Unverfängliches. Obwohl der Erzähler erkennen lässt, dass er das rechte Denken des Großvaters verachtenswert findet, löst sein Vokabular zugleich Befremden und Unbehagen aus, wenn er vor dem Hintergrund des Fetischs und der Nazivergangenheit die Familie etwa als »zutiefst gestört« und von »Geisteskrankheit« heimgesucht bezeichnet. Hier werden, ganz nebenbei, Dinge zusammengebracht, die nicht zusammengehören, und die erst bei weiterem Nachdenken immer seltsamer erscheinen. Denn Fetisch ist keine Krankheit, sondern eine sexuelle Neigung, Nationalsozialismus hingegen eine politische Ideologie. Vor allem letzteres als geisteskrank zu bezeichnen, entschuldigt und bagatellisiert die konkreten Pläne und die ausgeklügelten Vernichtungsgedanken, die zum Holocaust geführt haben, als das Werk Unzurechnungsfähiger. Vor dem Hintergrund der Rassenhygiene besteht zwischen Nationalsozialismus und Geisteskrankheit ohnehin eine diffizile Verbindung. Schließlich ist allein der Begriff »Geisteskrankheit« antiquiert, ungenau in seiner Unterscheidung von krank und gesund, unnormal und normal.

Es gibt somit eine ganze Reihe an Fragen, die die Verquickung von Geisteskrankheit und Nationalsozialismus auslöst. Bei genauerer Betrachtung entsteht der Eindruck, dass es dem Roman gar nicht so wichtig zu sein scheint, dieses Verhältnis zu dechiffrieren, es aufzuhellen, sondern dass es im Unklaren, im Dunkeln belassen wird, dass Geisteskrankheit und Nationalsozialismus zu »Abgründen, die tiefer und abgründiger und elendiger nicht sein konnten«, wie der Erzähler auffällig repetitiv betont, erklärt werden, sodass sie auf ewig ihr Unwesen mit der Gegenwart treiben. In der gleichen Passage wird denn auch die Unwahrscheinlichkeit besprochen, wie der Erzähler Christian Kracht in diesem faschistoiden Umfeld zu einem »normalen« Menschen heranwachsen konnte, dass es dieser »gestörten« Sozialisation zu verdanken sei, dass er geworden sei, wer er sei. Spätestens hier ist Aufmerksamkeit für das gefragt, was denn dieser »normale« Autor so schreibt. Bislang mutet es mitunter wie ein Nährboden für eine Ursprungserzählung des Mythos Christian Kracht an – das Genie aus der Nazifamilie, sozusagen. Wir kommen darauf zurück.

Wir irren im Werk im Kreis umher und werden von ihm verzehrt

Darüber hinaus ist es auch eine persönliche, aber höchst uneindeutige Geschichte über Mutter und Vater. Über den Vater, der sich aus schwierigen Verhältnissen hocharbeitet in ein Milieu, in dem er gut zu lügen und sich anzupassen weiß, und doch immer ein Parvenu bleiben soll, also jene soziale Figur, die sich in den Kreisen der Oberschicht bewegt, aber das alte Milieu, den Stallgeruch, nie wird ablegen können. Und so stellt sich die Frage, ob diese Geschichte etwas beweisen will, etwa die Prägung durch die soziale Herkunft. Ist sie so eindeutig, wie der Begriff Klasse impliziert, der unlängst die Debatten in den Feuilletons charakterisiert, besonders seit Didier Eribons literarischer Milieu- und Klassenstudie Rückkehr nach Reims, die, wie auch der Roman Ein Mann seiner Klasse, von Christian Baron, die Klasse als strukturbildende soziale Kategorie in der eigenen Biografie und besonders hinsichtlich des eigenen Vaters in den Blick nahm? Dafür spräche, dass dem Erzähler in Eurotrash das überzogene, elitäre Verhalten des Vaters, das sich durch ein fragiles, peinlich überhöhtes Klassenbewusstsein auszeichnet, als Folie dient, um über die eigenen intellektuellen Unzulänglichkeiten zu sprechen, die er mittels intertextueller Verweise in seinen Büchern zu kaschieren versuche. Ähnlich wie die Gebärden des Vaters, sollen diese Verweise – in Eurotrash etwa auf Guy Debords letzten Film In girum imus nocte et consumimur igni (Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt) – Intellekt, also kulturelles Kapital, vortäuschen, um sich zu distinguieren, der eigenen Klasse gerecht zu werden.

In der Geste des Offenlegens des eigenen Verhaltens analysiert der Erzähler sodann auch seine literarische Vorgehensweise und übt sich im Stil der Authentizität, die mehr und mehr als konstruiert erscheint. Er verweist etwa auf sein Erstlingswerk, das, so seine Vermutung, die Leserschaft aufgrund der »glaubhaften« Art davon überzeugte, dass der Ich-Erzähler der Autor selbst sei. Dies, so beteuert der Erzähler, sei einerseits gewollt, andererseits sei es Blödsinn, denn er hasse ja die Band die Eagles. Das ist amüsant und wirkt sehr glaubhaft, weil häufig Partikeln wie »also« und »ja« verwendet werden, die, wie der Duden sagt, »verstärkend bei gefühlsbetonten Aussagen« wirken. Vor allem täuschen sie Mündlichkeit vor. Diese auf Oralität verweisende Erzählweise verleiht dem Ganzen etwas Intimes. Das passt sehr gut, trügerisch gut, denn der Erzähler gibt ja intime Einblicke in seine Überlegungen bezüglich des Romans, wie auch die Tabletten- und Alkoholsucht der Mutter, die an der Goldküste in Zürich, einem Wohlstandsviertel, körperlich und psychisch zerfällt.

Die Schilderungen des Lebens der Mutter folgen dieser auf Intimität getrimmten Erzählweise. Und der Besuch im Haus der Mutter, in dem der Erzähler hofft, nicht wieder eine Blutlache wegwischen zu müssen, weil die Mutter im alkoholisierten Zustand gestürzt ist, sich den Kopf gestoßen hat und ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, mutet mitunter an wie der echte, unverstellte Bericht eines Lebens am Abgrund. Und vielleicht ist er das ja auch. Teilweise.

Denn die Mutter entpuppt sich in der darauf folgenden, kurzweiligen, wenn auch etwas arg zerfasernden, spontanen Taxireise durch eine als dekadent und abgehoben beschriebene Schweiz als eine überraschend gewiefte und zynisch-witzige Dame, die entlarvende Beobachtungen macht und gar nicht psychisch unzurechnungsfähig erscheint, wie der Erzähler sagt. Vielmehr scheint sich nur die Vermutung zu bestätigen, dass der Erzähler eine unzuverlässige Instanz ist, eine literarische Figur. Dies alles ist nicht nebensächlich, sondern Teil einer äußerst ambivalenten Geste, die die soziale Herkunft einerseits analysiert und andererseits zugleich offenlegt, dass es sich nicht um eine bloße Analyse, sondern Fiktion handelt, das Metier des Schriftstellers, der (s)eine Geschichte schreibt. Das wirkt, als würde die Sensationslust, der perfide Voyeurismus all jener naiven Leser*innen instrumentalisiert werden, die sich immer die Nähe zu diesem Autor gewünscht haben; doch sie sollen stets nur weitere Verwirrungen im Werk entdecken, um von ihm verzehrt zu werden.

Geschichte(n) erzählen

Kracht geht es nicht darum, etwas über sich, seine Familie oder seine Klasse zu erzählen, sondern das Erzählen als eine Praxis zu verstehen, die die Geschichte verändert. »Sollte es aber gelingen«, so mutmaßt der Erzähler einmal, »den Kreislauf der Geschichte zu unterbrechen, dann könne man nicht nur die Zukunft direkt beeinflussen, sondern auch die Vergangenheit.« Auf die Familiengeschichte bezogen läge die Vermutung nahe, dass der Kreislauf der Geschichte unterbrochen werden könne, indem sie in ihrer verletzlichen Verlogenheit dargestellt wird und ungeschönte Einblicke gegeben werden. Während der Vater zeitlebens versucht hat, die Mutter vor der Öffentlichkeit versteckt zu halten, sodass ihr Alkoholismus weder die neo-absolutistische Gesellschaft, in welcher er kursierte, noch sein eigenes Selbstbild untergrub, geht der Erzähler Kracht einen anderen Weg: Er zeigt diesen nicht sehr ansehnlichen, aber unterhaltsamen sozialen Abfall, dieses vermeintliche Luftschloss aus Eitelkeiten und Behauptungen eines verkommenen, europäischen Geldadels, der die Verbindung von Geld und Müll wie ein Markenzeichen mit sich trägt, den Eurotrash.

Vieles bleibt am Ende jedoch ungeklärt. Warum zum Beispiel die nationalsozialistischen Täter als unzurechnungsfähig und damit auch die historische Geschichte bagatellisiert wird, ist keine einfach zu beantwortende Frage. Sie könnte einen fahrlässigen Umgang nicht nur mit Geschichte, sondern auch mit dem eigenen Text nahelegen. In Anbetracht der kontroversen Rezeptionsgeschichte um Krachts Werke erscheint das aber unwahrscheinlich. Oder sie offenbart ein abgefeimtes, künstlerisches Kalkül, das es geflissentlich hinnimmt, dass alte Vorwürfe gegen den Autor in Erinnerung gerufen werden, um einem uneingeschränkt positiven Bild der eigenen Person entgegen zu wirken. Diese Perspektive scheint im Kontext der ambivalenten Erzählstruktur schlüssiger. Was wird dem Erzähler geglaubt, der seine persönliche Geschichte erzählt, die einerseits den Nationalsozialismus verachtet und selbst zugleich rechte Denkstrukturen offenbart, wo ist die kritische Haltung der Leser*innen gefragt? Das omnipräsente Verschwinden des Christian Kracht hätte demnach Methode. Es wird somit kein narrativer Schlussstrich gezogen, der die eigene und die historische Geschichte als beendet erklärt. Nicht ohne Grund scheint dem Buch ein Zitat des indischen Theosophen und Philosophen Jiddu Krishnamurti vorangestellt, das das Nicht-Verstandene als Voraussetzung für das Erinnern betont: »What is fully, completely understood // leaves no trace as memory.«